Feenkind
Pfeile, hatten keinen Willen. Der Mob könnte also seelenruhig ihr Haus abfackeln oder sie selbst mit einem Dutzend Pfeile durchbohren, ohne den Bannkreis überhaupt betreten zu müssen.
Doch so oder so spürte sie, wie der Kreis immer schwächer wurde. Die alte Frau wusste, dass sie keine Chance gegen sie alle hatte, ob sie nun eine Hexe war oder nicht. Sie würde jedoch nicht kampflos aufgeben. Lenuta verstärkte den Griff um ihren Besen und blickte finster entschlossen in die Runde. Sie sah, wie sich einige bereits nach kleinen Steinen bückten. Auch wenn manche Menschen sonst nichts verstanden, erkannten sie doch instinktiv, wie sie einem anderen Lebewesen am meisten Schaden zufügen konnten. Lenuta suchte sich die wenigen Gesichter in der Menge heraus, die noch unentschlossen waren, und funkelte sie herausfordernd an.
Hier bin ich, schien ihr Blick zu sagen. Eine alte Frau, die euch allen viel Gutes getan hat und die nun völlig wehrlos vor euch steht. Als das nichts fruchtete, fixierte sie die anderen mit ihrem Blick.
"Wenn ich eine richtige Hexe wäre, glaubt ihr, ihr könntet mir auch nur das Geringste anhaben?" höhnte sie. "Ich würde euch alle vernichten oder verfluchen oder mit furchtbaren Krankheiten belegen und mich dann in Luft auflösen!"
Die Menschen wechselten unsichere Blicke. Jetzt benahm sich die alte Frau tatsächlich so, wie man es von einer Hexe erwarten würde.
"Ich bin sicher, eure eigene Fantasie reicht aus, um euch auszumalen, was ich anschließend mir euren Familien tun würde!" gab Lenuta nicht nach. "Vorausgesetzt natürlich, ich
wäre
eine richtige Hexe", setzte sie trocken hinzu.
"Wir wissen, dass du eine bist!" rief eine schrille Stimme aus der Menge.
"In diesem Fall seid ihr alle entweder erstaunlich mutig oder erstaunlich dumm. Wenn ich mir eure Gesichter so ansehe, tendiere ich eher zu Letzterem."
Einige mussten unwillkürlich grinsen. So hatten sie Lenuta all die Jahre über gekannt - unverblümt, direkt und gnadenlos ehrlich.
Doch die anderen waren in der Überzahl. "Wir gehen erst, wenn du baumelst und dein Hexenhaus brennt!" rief wieder dieselbe Stimme wie vorhin. Und andere stimmten ein. "Brennen! Brennen! Tötet die Hexe!"
Lenuta spürte, wie der Bannkreis erlosch. Noch hatten die Menschen es nicht bemerkt, doch es würde nicht mehr lange dauern. Ein Stein flog auf sie zu und traf sie schmerzhaft an der Schulter.
Die alte Frau taumelte zurück und biss die Zähne zusammen.
"Wie ihr wollt!" hallte ihre Stimme laut und bedrohlich über den Hof. Sie schwang ihren Besen - einmal, als würde sie fegen, und ihr Angreifer wurde mehrere Schritte zur Seite geschleudert, wobei er drei oder vier weitere Männer mit sich riss. Drohend erhob Lenuta ihren Besen ein weiteres Mal.
Aber sie kam nicht dazu, ihn wieder einzusetzen.
Auf einmal und ohne jede Vorwarnung kam ein heftiger Wind auf, der die trockene Erde zu einer dichten Staubwolke aufwirbelte und die Hüte von den Köpfen der Leute riss. Taumelnd und fluchend versuchten die Menschen, sich auf den Beinen zu halten. Verängstigt und verärgert zugleich starrten sie durch den Staubvorhang zu Lenuta herüber, die sie für die Quelle des plötzlichen Sturms hielten. Doch als sie sahen, dass sich die alte Frau selbst mit ihrem Besen gegen den plötzlichen Sturm abstützte und dass ihr Blick unverwandt in den Himmel gerichtet war, erkannten sie ihren Irrtum.
Jemand blickte hoch, schnappte überrascht nach Luft und stupste dann seinen Nachbarn an. Wie eine Welle ging diese Bewegung durch die gesamte Menge Erst wenige und nach und nach alle Augenpaare blickten hoch und innerhalb weniger Atemzüge waren alle Augen auf eine am Himmel schwebende Frauengestalt gerichtet. Sie war in ein langes, schimmerndes schwarzes Kleid gekleidet, das ihr im Wind um die Beine flatterte. Lange, ebenholzschwarze Haare umrahmten ihr weißes Gesicht, von dem sich ihre dunklen, beinahe lila farbenen Augen strahlend klar und funkelnd abhoben. Und über ihrem Kopf erhoben sich die durchsichtigen, irisierenden Flügel, deren Anblick genügte, um die Menschen im ganzen Reich in Angst und Schrecken zu versetzen.
Die Gestalt schwebte, sich ihrer Wirkung auf den Mob völlig bewusst, langsam zur Erde und kam schließlich zwischen der Menge und Lenuta zum Stehen. So plötzlich wie der Wind gekommen war, erstarb er auch.
Nervös schauten die Menschen einander an und versuchten unwillkürlich, hinter den Rücken ihrer Vorder- oder Nebenmänner Schutz zu suchen.
"Was geht
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