Feenkind
durchsuchte ihr Gedächtnis nach Anhaltspunkten für sein nächstes Ziel.
Plötzlich tauchte fast von allein ein leuchtend gelber Funke auf der Karte auf. Als Eliza ihn sah, wunderte sie sich, dass sie nicht schon von Anfang an daran gedacht hatte.
Lenuta!
Es war doch offensichtlich, dass Chris Rat bei der Frau suchen würde, die ihn bereits einmal aus dem Niemandsland zwischen Leben und Tod zurückgebracht hatte. Insbesondere, falls seine Begleiterin tatsächlich verletzt war.
Wieso nur hatte sie nicht sofort daran gedacht? Aber es hatte keinen Sinn, sich über Vergangenes zu ärgern. Ihre damaligen Schlussfolgerungen waren ihr zur gegebenen Zeit genauso logisch erschienen wie die gegenwärtigen jetzt.
Eliza lächelte und öffnete die Augen. Es würde nicht einfach werden, Lenuta dazu zu bringen, Chris zu verraten. Doch sie hatte schon eine Idee, wie es ihr dennoch gelingen konnte.
* * *
Obwohl sie hinten im Garten ihre Kräuter erntete, spürte Lenuta sofort, dass etwas nicht stimmte. Ihr war, als hätte es einen lautlosen Knall gegeben, der alle Härchen an ihrem Körper aufrichten ließ. Eilig sprang sie auf und lief, ohne sich die Erde von den Knien zu klopfen, durch die Hintertür ins Haus. Ein Blick auf die nächste Hirealis bestätigte ihr Gefühl. Die kleine Frucht schien vor ihren Augen zu vertrocknen und in sich zusammenzufallen - lange würde ihr Bannkreis nicht halten. Es mussten also sehr viele sein, die ihr Böses wünschten. Energisch schnappte sie sich ihren Besen, der harmlos in einer Ecke lehnte, und eilte zur Vordertür.
Ein wütender Mob war in ihrem Hof versammelt. Die Leute bildeten einen Halbkreis um die Eingangstür, kamen jedoch nicht näher. Der Bannkreis hielt also noch.
Wäre er nicht gewesen, die Leute hätten das Haus längst gestürmt und mich an dem erstbesten Baum aufgeknüpft, dachte Lenuta verbittert. Sie ließ ihren Blick durch die Menge schweifen. Sie sah viele Gesichter, die sie dort zu sehen nicht erwartet hätte. Wahrscheinlich waren sie nur mitgekommen, um das Schlimmste von ihr abzuwenden. Doch nun starrten sie mit derselben Mischung aus Angst und Hass auf die unsichtbare Linie, die sie von Lenutas Haus fernhielt.
Die Alte Frau seufzte. Jetzt hatte niemand auch nur den geringsten Zweifel mehr daran, dass sie eine bösartige Hexe war, egal, wie viel Gutes sie ihnen getan haben mochte. Trotzdem verstand sie nicht, wieso sich so viele Menschen die Mühe gemacht hatten, den ganzen Weg zu ihrem so weitab gelegenen Hof zu gehen. Bis sie in der vordersten Reihen die Müllerin erblickte. Daher wehte also der Wind. Nun, jeder hatte seine eigene Art mit dem Verlust eines Kindes umzugehen, das an einer unheilbaren Krankheit gestorben war. Doch die Schuld unbeteiligten Menschen zu geben, die dem Kind nur hatten helfen wollen, war bestimmt nicht der beste Weg dafür.
Lenuta straffte die Schultern und machte einen großen Schritt nach vorne - noch immer im Schutz ihres Bannkreises, doch nicht länger im Schutz ihres Hauses. Scheinbar wehrlos, nur mit ihrem Besen in den Händen, stellte sie sich den Leuten gegenüber hin.
Die Menge verstummte. Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann ergriff Lenuta, die keine Zeit zu verlieren hatte, das Wort. "Einen gesegneten Tag euch allen", sagte die alte Frau so ruhig, als hätte sie sie zufällig im Dorf getroffen. "Ist jemand erkrankt oder braucht jemand sonst meine Hilfe?"
Einige Gesichter blickten betreten zu Boden.
"Du weißt genau, wieso wir hier sind, Hexe!" keifte die Müllerin. Viele Köpfe nickten zustimmend.
"Hexe?" fragte Lenuta empört. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich zu rechtfertigen. "Wie kommt ihr denn auf diesen Schwachsinn?"
"Ach ja? Und ist das etwa kein Beweis?" schrie die Müllerin und schleuderte die Fackel, die sie in der Hand, hielt direkt auf Lenuta zu.
Ungerührt verfolgte die alte Frau ihren Flug, ohne sich von der Stelle zu rühren. Erst als die Fackel unmittelbar neben ihr zu Boden fiel, hielt sie ihren Rocksaum leicht weg, damit er nicht versengt wurde. Dann wandte sie ihren Blick wieder der Müllerin zu. "Was das beweist, musst du mir schon noch erklären", sagte sie kühl. Doch sie spürte, wie ihr kalte Angst das Rückgrat hinauf kroch. Einerseits waren die Leute nun völlig verunsichert, weil der Bannkreis die Fackel nicht aufgehalten hatte. Andererseits könnten sie bald begreifen, dass ihr Bannkreis nur diejenigen fernhalten konnte, die ihr Böses wünschten. Unbelebte Objekte, wie Fackeln oder
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