Feenkind
Haufen Feenamulette. Die einstündige Frist war längst verstrichen und langsam fielen ihm keine Ausreden mehr ein, seinen Aufbruch weiter zu verzögern. Chris stand auf und streckte die vom langen Sitzen schmerzenden Glieder. Dann klopfte er sich die Mischung aus Staub und Holzspänen von den Kleidern und fing an, seine Besitztümer einzusammeln.
Ein lautes Pfeifen ließ ihn erschrocken zusammenzucken. Er duckte sich reflexartig und blickte zur Quelle des Geräuschs.
Und da stand sie, direkt vor der Höhle, als wäre rein gar nichts gewesen. Chris' Augen suchten ihre schlanke Gestalt nach versteckter Beute ab, doch außer ihrem Rucksack konnte er nichts entdecken. Und der schien auch nicht sonderlich mehr zu enthalten als bei ihrem Aufbruch. Sollte das dumme Mädchen etwa nichts gefunden haben? Doch sie schien zufrieden. Es musste sich also für sie gelohnt haben. Ein Gedanke durchzuckte Chris und ließ sein Herz vor Aufregung schneller klopfen: Hatte sie etwas so Wertvolles gefunden, dass sie sich mit dem üblichen Kleinkram gar nicht erst zu belasten brauchte? Was könnte es sein?
Sie schien seinen gierigen Blick auf sich zu spüren, denn sie blickte sich unsicher um. Chris erstarrte in seinem Versteck und wagte es kaum zu atmen. Er hatte Glück. Anscheinend hatte sie ihn doch nicht bemerkt und wandte sich ihrem Pferd zu, das aus dem Wald auf ihren Pfiff hin herangetrabt war. Mit einer fließenden Bewegung schwang sie sich in den Sattel und lenkte ihr Tier mit sicherer Hand von der Höhle weg.
Sie hatte also ein neues Ziel.
Hastig, bevor sie aus seinem Sichtfeld verschwand, kramte der junge Mann seinen Feenkompass - einen echten, keins der billigen Imitate, die er selbst hin und wieder verkaufte - heraus und fixierte ihn auf sie. Jetzt würden sie und ihre geheimnisvolle Beute ihm nicht mehr entwischen können.
Stunden später fluchte Chris leise, aber herzlich, als er in der Dunkelheit wieder über eine Wurzel stolperte. Wurde die Kleine denn nie müde? Schon vor einiger Zeit hatte das Mädchen und auch er selbst wegen der zunehmenden Dunkelheit absteigen müssen. Chris hatte gehofft, dass sie ihr Nachtlager aufschlagen würde, nachdem es zum Reiten zu dunkel geworden war. Doch sie schien keine Müdigkeit zu verspüren. So langsam fragte er sich, ob sie überhaupt aus Fleisch und Blut bestand. Zumindest hatte
sie
eine Fackel, um sich den Weg zu erhellen. Er hingegen tappte vollkommen im Dunkeln und durfte darüber hinaus keine Geräusche machen, die ihre Aufmerksamkeit auf ihn lenken konnten. Er bezweifelte allerdings, dass er besonders leise war. Doch allem Anschein nach hörte das Mädchen seinen Krach entweder gar nicht, oder hielt ihn für die natürlichen Geräusche des Waldes. Immerhin hatte er es geschafft, von lauten Schmerzensschreien und Flüchen Abstand zu nehmen. Bei der Anzahl von Kratzern und blauen Flecken, die ihm diese mühsame Verfolgung eingebracht hatte, war dies eine beachtliche Leistung.
Er spürte, wie sein Fuß sich in einem trockenen, abgefallenen Ast verfing und hielt in seiner Bewegung gerade noch rechtzeitig inne, um sein Gleichgewicht zu bewahren. Er verstand einfach nicht, wie sie so unbeirrt und gleichmäßig ihren Weg fortsetzen konnte. Der Schein ihrer Fackel, der zwischen den Bäumen hindurch immer wieder zu ihm drang, verstärkte in ihm das Gefühl, nicht einem Mädchen, sondern einem der Irrlichter zu folgen, die unachtsame Reisende so gerne in Sumpflöcher lockten. Natürlich wäre es ihm ein Leichtes gewesen, im Wald zu übernachten und seine Verfolgung am Morgen mit Hilfe seines Kompasses wieder aufzunehmen, doch er wollte keine Zeugen haben, wenn er die Kleine endlich einholte. Und das würde eher schwierig werden, wenn sie die Landstraße erst einmal erreicht hatte. Wenn er nur sicher sein könnte, dass sie etwas dabei hatte, das die ganze Mühe wert war.
Schließlich blieb der Lichtschein stehen. Anscheinend hatte selbst die Kleine endlich genug. Seufzend setzte sich Chris mit dem Rücken an einen Baum. Er konnte nur hoffen, dass keins der Tiere, die er unterwegs gehört hatte, ihn für einen besonderen Leckerbissen halten würde. Er konnte ja nicht einmal ein Feuer machen, um sich warm und die Tiere fernzuhalten. Er schlang sich wärmend die Arme um die Schultern und rückte ein paar Mal hin und her, bis er eine halbwegs bequeme Position erreicht hatte. Murrend holte er einen spitzen Stein, der sich schmerzhaft in sein Gesäß gebohrt hatte, hervor. Er wollte ihn schon
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