Feenland
See spannen. Menschen verteilen sich in wirren
Haufen. Auf einer Seite lodert das Dach eines Hauses in
verschnörkelter Carpenter-Gotik plötzlich auf; auf dem
schwarzen Wasser des Sees mit seinen Schauminseln liegt der
Widerschein der Flammen. Überall sind Menschen, die frei durch
die Phantasie-Landschaften des Magic Kingdom streifen.
Auch Morag streift umher. Irgendwo unter dem Magic Kingdom
muß der entführte Junge sein, der Wechselbalg der Feen.
Sie nähert sich dem Schloß mit seinen spitzen Türmen,
das im Zentrum der Anlage steht. Im Flammenzucken der brennenden
Häuser scheint Morags Schatten vor ihr her zu taumeln.
Jemand steht auf der Zugbrücke, die in das hohe, abweisende
graue Gemäuer hineinführt.
Es ist der Elf, der sich Erste Strahlen der Neu Aufgehenden Sonne
nennt.
Er wartet, bis Morag wieder Luft bekommt. Ihr Rücken brennt
von den Heizfäden des Coveralls, aber der Rest ihres
Körpers ist klamm von Schweiß und Kälte. Endlich
stößt sie hervor: »Ich komme den Jungen
holen!«
Ray entblößt seine nadelspitzen Zähne. »Ich
kann ihn dir nicht geben, weil er nicht mir gehört. Aber komm
mit mir! Wir suchen ihn.«
»Wenn das ein Trick ist, breche ich dir das Kreuz!«
»Du nimmst die Sprechweise dieser primitiven Frau an. Vertrau
mir! Ich handle die Sache aus.«
»Weshalb sollte ich dir vertrauen?«
»Weshalb nicht?«
Ray faßt sie an der Hand. Seine Haut ist trocken und
heiß. Morag folgt ihm durch das Schloßtor. Plötzlich
läßt er ihre Hand los und ruft in das Dunkel: »Da ist
die Frau!«
Ein anderer Elf springt Morag auf den Rücken. Sie wirbelt
herum, aber er klammert sich mit den Beinen an ihrer Taille fest.
Kräftige Finger halten ihr die Nase zu, bis sie nach Luft ringt.
Sie spürt einen Batzen auf der Zunge, der nach roher Leber
schmeckt, und sie versucht ihn auszuspucken, aber er löst sich
unversehens rasch in ihrem Mund auf.
»Sie braucht das!« kreischt Ray. »Sie braucht das!
Nicht ich!«
Dann wird Morag hochgehoben und über eine muskulöse
Schulter geschwungen. Eine Tierschnauze schiebt sich dicht an ihre
Wange heran, streift sie mit Stoßzähnen. An den
Zähnen sind silberne Schutzkappen befestigt. Klauen dringen
scharf durch den Coverall, als das Ding sie fester umklammert und
durch verzerrte Perspektiven schleppt, die von Keilen schwacher
Phosphoreszenz erhellt werden.
Morag liegt unter dem kahlen Geäst eines großen Baums
auf einem weichen Fellteppich, der Tierwärme verströmt und
sich schwach bewegt, als sie mühsam auf die Knie kommt und die
kalte Luft einatmet. Seltsame blaue Gesichter schwanken im Schein
flackernder Lichter, die in einem weiten Ring um den Baum angeordnet
sind. Lange, traurige Gesichter mit breiten, lippenlosen
Mundschlitzen, mit schartigen, spitzen Zähnen, die wie alte
Küchenmesser aussehen, mit starr abstehenden Stachelkrausen.
Gesichter mit Schweinsrüsseln oder grämlich
herabhängenden Schnauzen, Gesichter so rund wie der Mond, Augen,
Nase und Mund in der Mitte zusammengeschoben. Gestalten, kleine,
absonderliche, blauhäutige Gestalten.
Feen.
»Na, endlich!« sagt Ray.
Morag dreht sich um. Ray steht neben einer Frau, die auf einem
schlichten Stuhl mit hoher Lehne Platz genommen hat. Die Frau
trägt einen langen, pelzgesäumten Samtumhang. Das Visier
eines Phantasie-Helms, an den Rändern mit Dornen und
Hörnern verziert, bedeckt ihr Gesicht. Anstelle von
Augenlöchern besitzt es vier untertassengroßen
Facetten-Linsen, so daß der Kopf der Frau an eine
Gottesanbeterin erinnert. Von der Rückseite des Helms führt
ein Kabel in ein Computerdeck, das im vergilbten Gras steht.
»Ich bringe sie her«, sagt Ray. »Ich bin meinem
Wort getreu.«
Die Frau hebt die Arme und nimmt den Helm ab. Ihr Gesicht mit dem
messerscharfen Profil ist das gleiche Gesicht, das mit seiner
Gegenwart Glanz über alle Hütten und Hinterhöfe der
Pariser Bidonvilles bringt, das Gesicht, das auf Plakaten und
herausgerissenen Zeitschriften-Seiten, auf TV-Schirmen und am Himmel
über dem Interface zu sehen ist.
Ein Elf tritt neben die Frau, und sie reicht ihm den Helm.
»Wir hätten sie auch ohne dich hierhergebracht«, sagt
sie zu Ray.
Ray entblößt seine Zähne. »Dennoch, ich tue
so viel für dich. Wir sprechen darüber, du sagst, du hilfst
mir, hilfst meinem Volk…«
Die Frau entgegnet kühl, mehr an Morag als an Ray gewandt:
»Ich handle nicht mit Elfen. Du hast mir geholfen, weil du
weißt, was ich bin. Du solltest keine
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