Feenzorn
Hinterteil hob und mit beiden Hufen nach meinem Kopf auskeilte. Ich rollte mich ab, sprang auf und hastete weiter, um hinter dem nächsten Baum in Deckung zu gehen. Das Einhorn drehte sich um, stolzierte in meine Richtung und umkreiste den Baum. Schaum tropfte ihm aus dem offenen Maul.
Als Elaine einen Schrei ausstieß, sah ich mich sofort nach ihr um. Sie hatte die rechte Hand gehoben und aus ihrem Ring eine Wolke glühender Flocken abgeschossen, die wie ein Schwarm leuchtender Insekten auf das Einhorn zuflogen und es umhüllten. Sie tanzten und sausten in einem flirrenden Durcheinander um das Tier herum. Eines von ihnen flitzte auch an mir vorbei, und sofort waren meine Sinne getrübt. Vor meinem inneren Auge sah ich mich in abgetragenen Schuhen auf einem Gehweg laufen, die Sonne schien, eine Handtasche wippte an meiner Hüfte, ich verspürte einen angenehmen Appetit, der Geruch von heißem Asphalt stieg mir in die Nase, irgendwo in der Nähe spielten und planschten Kinder. Das war eindeutig eine Erinnerung, die Elaine gehörte. Ich taumelte, schob die Bilder fort und kam wieder zu mir.
Die Flocken umkreisten das Einhorn, stupsten es hin und wieder an, und bei jeder Berührung drehte das Feenwesen durch. Es fuhr herum, trat aus und wieherte, stieß mit dem Horn und wollte wütend die körperlosen Feinde zum Kampf fordern. Es nützte nichts.
Elaine stand mit ausgestreckter Hand da und konzentrierte sich auf ihren Spruch. »Harry«, rief sie, »lauf los. Ich halte es fest.«
Mit rasendem Herzen stand ich auf. »Hast du es wirklich im Griff?«
»Ja, eine Weile schaffe ich es noch. Geh zu den Müttern. Beeil dich!«
»Ich will dich nicht allein lassen.«
Ihr rann der Schweiß übers Gesicht. »Keine Angst, wenn es sich befreit, werde ich nicht warten, bis es mich aufspießt.«
Ich knirschte mit den Zähnen. Einerseits wollte ich Elaine nicht im Stich lassen, andererseits hatte sie sich viel besser geschlagen als ich. Sie stand mit ausgestrecktem Arm ein Dutzend Schritte vor dem Einhorn und hielt das Wesen fest, als steckte es in einem Netz. Meine schlanke, aufrechte, schöne Elaine.
Erinnerungen und alte Bilder überfluteten mich. Unzählige Kleinigkeiten, die ich längst vergessen hatte, waren auf einen Schlag wieder da. Ihr Lachen, leise und boshaft im Dunkeln; ihre schlanken Finger, die sich mit meinen verflochten; ihr schlafendes Gesicht neben mir auf dem Kissen, sanft und friedlich in der Morgensonne.
Es gab noch viele weitere Bilder, aber ich schob sie alle fort. Das war vor langer Zeit gewesen, und sie würden überhaupt nichts mehr bedeuten, wenn wir die nächsten Minuten und Stunden nicht überlebten.
Daher kehrte ich ihr den Rücken und ließ sie mit dem alptraumhaften Einhorn allein, um zu den Lichtern im Nebel zu laufen.
26. Kapitel
Das Niemalsland ist ein riesiger Ort. Eigentlich ist es der größte überhaupt, denn es umfasst all das, was die Magier als das Reich der Geister bezeichnen. Es ist keine physische Gegend mit einer Geografie und Wetterphänomenen und so weiter. Vielmehr ist es eine Schattenwelt, ein magisches Reich, dessen Substanz so veränderlich ist wie ein Gedanke. Es gibt viele Namen dafür – die Andere Seite oder die Nächste Welt, und in sich birgt es praktisch jedes Geisterreich, das man sich nur vorstellen kann. Der Himmel, die Hölle, der Olymp, Elysium, Tartaros, Gehenna – wie man es auch nennt, all dies befindet sich irgendwo im Niemalsland. Jedenfalls theoretisch.
Die Bereiche des Niemalslandes, die der Welt der Sterblichen am nächsten liegen, werden fast vollständig von den Sidhe beherrscht. Dieser Teil des Geisterreichs, das Land der Feen, ist eng mit unserer natürlichen Welt verbunden. Daher ähnelt das Feenland in vielerlei Hinsicht der realen Welt. Beispielsweise ist es recht dauerhaft und verändert sich kaum, und es gibt verschiedene Wetterlagen. Aber begehen Sie nicht den Fehler zu glauben, es sei genau wie die Erde. Die Regeln der Realität gelten dort nicht so streng wie in unserer Welt, und die Feenwesen können ausgesprochen bösartig und hinterhältig sein. Die meisten, die sich dorthin wagen, kehren nie zurück.
Allmählich hatte ich ein unbestimmtes Gefühl, als liefe ich mitten durchs Feenland.
Es ging bergab, und der Boden wurde feuchter und weicher. Der Nebel verschluckte alle Geräusche hinter mir, bis ich nur noch meinen eigenen angestrengten Atem hören konnte. Vom Rennen schlug mir das Herz bis zum Halse, und meine verletzte
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