Feenzorn
Seite. Wir entfernten uns vom Hotel und fädelten uns in den Verkehr ein. Niemand bemerkte uns, und dennoch ließen uns die Autos viel Platz. Es war ein höllisch guter Schleier. Die Kutsche ruckte nicht einmal, und nach ungefähr einer Minute wehten Nebelschwaden am Fenster vorbei. Kurz darauf war die Stadt durch den Dunst überhaupt nicht mehr zu erkennen. Der Verkehrslärm flaute ab, bis wir nur noch silbergraue Wolken und das Hufgetrappel hörten.
Etwa fünf Minuten später hielt die Kutsche an, und die Tür ging auf. Ich öffnete meine Sporttasche und nahm meinen Stab und den Sprengstock heraus. Dann schob ich mir den Schwertstock in den Gürtel und zog mein Amulett hervor, damit es offen auf der Brust lag. Elaine tat das Gleiche mit ihrem Amulett. Schließlich stiegen wir aus.
Zunächst nahm ich die nähere Umgebung in Augenschein. Wir standen in federndem Gras auf einem niedrigen, sanften Hügel, der von ähnlichen Erhebungen umgeben war. Der Nebel lag über dem Land wie eine unfertige Gewitterwolke – träge und wallend an manchen Stellen, an anderen erheblich dünner. Hier und dort wuchsen Bäume mit dicken, knorrigen Stämmen und dürren, langen Ästen. In der Nähe hockte ein zerzauster Rabe mit funkelnden Knopfaugen auf einem Zweig.
»Ein fröhliches Land«, bemerkte Elaine.
»Ja, wie Baskerville.« Die Kutsche setzte sich wieder in Bewegung und verschwand im Nebel. »Na gut, wohin müssen wir gehen?«
Darauf krächzte der Rabe und schüttelte sich. Ein paar Federn lösten sich und fielen herab, dann schlug er einige Male mit den Flügeln und flatterte zu einem anderen Baum, fast außer Sichtweite.
»Harry«, sagte Elaine.
»Ja?«
»Wenn du jetzt einen schlechten Witz reißt, in dem das Wort ›nimmermehr‹ vorkommt, verpasse ich dir einen Kinnhaken. Hast du verstanden?«
»Nimmermehr werde ich so etwas tun«, versprach ich ihr.
Elaine verdrehte die Augen. Dann folgten wir dem Raben. Er flatterte schweigend von Baum zu Baum und führte uns durch die bewölkte Landschaft. Wir folgten ihm bis an den Saum eines Waldes. Der Boden war hier weicher, die Luft feucht, beinahe schwül. Wieder krächzte der Rabe, dann verschwand er zwischen den Stämmen.
Ich sah ihm nach. »Erkennst du das Licht dahinten zwischen den Bäumen?«
»Ja. Anscheinend sind wir da.«
»Schön.« Ich wollte gehen, aber Elaine hielt mich am Handgelenk fest. »Warte«, sagte sie warnend.
Sie nickte in Richtung der dichten Schatten, wo zwei Bäume gegeneinandergestürzt waren. Einer der Schatten bewegte sich, nahm eine Gestalt an und näherte sich, bis ich ihn erkennen konnte.
Das Einhorn sah aus wie ein Brauereipferd, einer dieser riesigen Kaltblüter, die für schwere Arbeiten eingesetzt werden. Es hatte ein Stockmaß von gut einem Meter achtzig, vielleicht sogar noch mehr, eine mächtige Brust und vier schwere Hufe. Die Ohren hatte es über dem langen Pferdegesicht gespitzt.
Damit war die Ähnlichkeit mit einem Clydesdale aber auch schon erschöpft.
Es hatte kein Fell, sondern einen glatten Panzer, anscheinend Schuppen und Platten aus Chitin, die dunkelgrün bis tiefschwarz gefärbt waren. Die Hufe waren gespalten und mit altem Blut verkrustet. Auf der Stirn entsprang ein spiralförmig gewundenes Horn, das einen Meter lang und gefährlich spitz war. Die Windungen hatten außen scharfe Zacken, auch dort waren rostrote Flecken zu erkennen. Zwei weitere Hörner, denen eines Widders nicht unähnlich, entsprangen neben dem spitzen Horn und krümmten sich neben dem Kopf. Wo die Augen hätten sein sollen, war nur glattes, ledriges Chitin. Das Tier schüttelte den Kopf, dass um den Hals und die Vorderläufe seine Mähne aus alten Spinnweben flog, lang und rissig wie ein Grabtuch.
In der Nähe des Einhorns flatterte eine große Motte umher. Das Fabelwesen drehte sich unglaublich schnell herum, schleuderte die Motte mit einem wilden Kopfschütteln zu Boden und zermalmte das kleine Tier mit Tritten seiner Hufe, die schwer waren wie Vorschlaghämmer. Danach schnaubte es und kehrte lautlos zwischen die teils im Nebel liegenden Bäume zurück.
Elaine riss die Augen weit auf und sah mich an.
Ich erwiderte ihren Blick. »Ein Einhorn«, erklärte ich. »Sehr gefährlich. Du gehst vor.«
Sie zog eine Augenbraue hoch.
»Na ja, vielleicht auch nicht«, lenkte ich ein. »Ein Wächter?«
»Offensichtlich«, stimmte Elaine zu. »Wie kommen wir an ihm vorbei?«
»Indem wir ihn die Luft jagen?«
»Der Gedanke ist verlockend«, meinte
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