Feenzorn
war ja nicht einmal ein besonders raffinierter Anschlag, soweit ich das beurteilen kann.«
»Falsch«, sagte Murphy. »Es war nicht perfekt, aber auch ‘ nicht dumm. Nach Ihrem Anruf habe ich mich etwas umgehört.«
Fragend sah ich sie an. »Haben Sie denn etwas herausgefunden?«
»Allerdings. Wie sich herausstellte, gab es in den letzten drei Tagen zwei bewaffnete Raubüberfälle. Der erste fand außerhalb von Cleveland statt, der zweite in einer Tankstelle auf unserer Seite von Indianapolis. Das zielt also in Richtung Chicago.«
»Es kommt mir aber nicht sonderlich ungewöhnlich vor.«
»Bis jetzt noch nicht«, erwiderte Murphy. »Das ändert sich, wenn man berücksichtigt, dass in beiden Fällen Opfer vom Tatort entführt wurden und dass in beiden Fällen die Videoüberwachung genau in dem Augenblick ausfiel, als die Überfälle begannen. Mehrere Augenzeugen in Indiana konnten bestätigen, dass es sich beim Täter um eine Frau handelte.«
Ich pfiff durch die Zähne. »Das könnte unser Ghul sein.«
Murph nickte und presste die Lippen zusammen. »Wie sind die Aussichten, dass die Opfer, die sie geschnappt hat, noch leben?«
Ich schüttelte den Kopf. »Damit ist nicht zu rechnen. Wahrscheinlich hat sie die Opfer gefressen. Ein Ghul kann vierzig bis fünfzig Pfund Fleisch am Tag vertilgen. Was dann noch übrig war, hat sie wahrscheinlich irgendwo abgelegt, wo Tiere herankamen, um ihre Spuren zu verwischen.«
Sie nickte. »So etwas dachte ich mir schon. Das Profil passt zu mehreren anderen Vorfällen in den letzten zwanzig Jahren. Ich brauchte eine Weile, um es mir zusammenzureimen, aber etwas Ähnliches ist dreimal in Verbindung mit den Aktivitäten einer Auftragskillerin geschehen, die sich die Tigerin nennt. Ein Freund beim FBI verriet mir, dass sie ihr eine Reihe von Morden in der Gegend von New Orleans zuschreiben. Interpol glaubt, sie hätte auch Jobs in Europa und Afrika übernommen.«
»Eine Auftragsmörderin«, überlegte ich. »Nur wer waren in meinem Fall die Auftraggeber?«
»Nach allem, was Sie gesagt haben, würde ich auf die Vampire tippen. Sie würden von Ihrem Tod am meisten profitieren. Wenn die Vampire Sie erledigen, wird der Rat vermutlich ein Friedensangebot machen, oder?«
»Mag sein«, räumte ich ein, auch wenn ich es im Grunde bezweifelte. »Aber wenn sie dies vorhatten, dann haben sie den Zeitpunkt schlecht gewählt. Vor zwei Nächten haben sie irgendwo in Russland ein paar Magier niedergemetzelt, und der Rat war darüber ziemlich ungehalten.«
»Na schön. Vielleicht glauben sie, wenn Sie Reuels Mörder finden, macht sich der Rat bei den Feenwesen beliebt, und es kommt zu einem harten Kampf. Da liegt es doch nahe, Sie lieber vorher umzubringen.«
»Nur, dass ich noch nicht mit den Ermittlungen begonnen hatte, als der Anschlag auf mich verübt wurde.«
Murphy schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, wir könnten Sie mit einem Zeichner zusammenbringen, dem Sie die Frau beschreiben können.«
»Das würde wohl nicht viel nützen. Sie war geschminkt, und ich habe sie zuerst kaum wahrgenommen. Als ich dann genauer hinsah, kam sie mir eher vor wie eine Figur aus einem japanischen Horrorcomic.«
Murphy starrte ihren inzwischen kalten Kaffee an. »Dann können wir nicht viel tun, außer zu warten. Ich habe noch zwei Informanten, die versuchen, mehr herauszufinden, aber darauf würde ich mich nicht unbedingt verlassen. Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald ich etwas höre.«
Ich nickte. »Selbst wenn wir sie finden, hilft uns das bei den Feenwesen nicht unbedingt weiter.«
»Richtig«, stimmte sie zu. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen? Vielleicht stoße ich auf etwas, das Ihnen entgangen ist.«
»Gut.«
»Diese Frau mit den Dreadlocks – hieß sie nicht Maeve?«
»Ja.«
»Wie sicher sind Sie, dass Ihr Gefühl richtig ist und sie als Mörderin ausscheidet?«
»Ziemlich sicher.«
»Aber nicht absolut.«
Nachdenklich runzelte ich die Stirn. »Nein. Feenwesen sind raffiniert. Ich bin nicht völlig sicher.«
Murphy nickte. »Was ist mit Mab?«
Ich massierte mein Kinn, auf dem die Bartstoppeln sprossen.
»Sie hat nicht unmissverständlich erklärt, dass sie mit Reuels Tod nichts zu tun hat, trotzdem glaube ich nicht, dass sie die Mörderin ist.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Keine Ahnung.«
»Ich dagegen weiß es. Sie hätte jeden anderen auswählen können, der ihre Interessen vertritt, aber sie hat sich für Sie entschieden. Hätte sie etwas zu verbergen gehabt, dann
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