Fehlschuss
pickte. Sie riss den Hörer hoch und
bellte ein abschreckendes „Berndorf“ hinein, darauf gefasst, beim ersten
obszönen Geräusch wieder aufzulegen.
Aber sie legte nicht wieder auf.
Fünfundzwanzig
Hellwein
brütete den ganzen Montagnachmittag über den privaten und geschäftlichen
Unterlagen, die sie in der Wohnung von Tönnessen gefunden hatten. Die auf den
Cent genauen Auflistungen waren so penibel, dass man es wirklich als Marotte
bezeichnen konnte. Aber es war eine Arbeit, die ihm Spaß machte. Er
beschäftigte sich gern mit Zahlen. Sein Spitzname „Statistik-Heinz“ kam
schließlich nicht von ungefähr.
Auf seinem vorher so aufgeräumten Schreibtisch herrschte wieder ein
wildes Durcheinander aus Haushaltsbüchern, Ordnern mit Steuerunterlagen,
Rechnungsbelegen und jenen kleinen Zetteln, auf denen er sich so gern seine
Notizen machte. Neben ihm auf dem grauen Linoleumboden standen zwei Schuhkartons,
in denen Tönnessen Rechnungen aufbewahrt hatte, die noch abgelegt werden
mussten.
Langsam wurden Hellwein verschiedene Dinge immer klarer. Überweisungen
von Männern wie Witte oder Geseke tauchten nie auf. Die Frauen aber, die für
Tönnessen gearbeitet hatten, überwiesen in regelmäßigen Abständen ganz
offiziell eine Vermittlungsprovision auf ihr Konto, die sie bis auf den letzten
Cent bei ihrer Steuererklärung angab. Die Differenz zwischen Provision und dem,
was die Freier wirklich zahlten, war der Verdienst der diversen
Mitarbeiterinnen. Wie die dann steuerlich damit umgingen, war nicht das Problem
der Tönnessen gewesen.
Wie viel mochte sie wohl schwarz gemacht haben, wenn ihr Bescheid vom
Finanzamt im letzten Jahr schon satte zweihunderttausend ausgewiesen hatte?
Oder war sie nicht nur penibel, sondern auch extrem ehrlich gewesen?
Hellwein grub weiter, in der Hoffnung, irgendwann auf Namen oder
Zusammenhänge zu stoßen, die eine Verbindung zu Inge Lautmann herstellten. Die
Zettel, die er mit seinen „Fliegenschissen“ bedeckte, wurden immer mehr.
Irgendwann zog er sein Jackett aus. Erstens, weil ihm warm geworden
war und zweitens, weil er immer noch hoffte, Susanne würde vielleicht sein
neues, fliederfarbenes Hemd auffallen. Ein edles Teil, das ein ziemliches Loch
in seine Haushaltskasse gerissen hatte. Reinste Naturseide, Button-Down-Kragen,
Hornknöpfe, doppelt gesteppte Nähte. Er war verdammt stolz darauf und hoffte
schon den ganzen Tag auf eine Bemerkung seiner Vorgesetzten.
Jetzt wurde er wütend auf sich selbst. Er würde es nie lernen! Ihr
fiel seit fünf Jahren nichts auf, wieso also ausgerechnet heute? Wahrscheinlich
könnte er nackt durchs Büro tanzen und sie würde nur sagen: „Setz dich endlich
hin, Heinz!“ Seufzend wühlte sich Hellwein weiter durch die Unterlagen.
Susanne verbrachte beinahe den gesamten Nachmittag am Telefon.
Versuchte, so diskret wie möglich, die diversen Alibis bestimmter Herren zu
hinterfragen. Manchmal hatte sie Glück und traf auf eine relativ geschwätzige
Vorzimmerdame oder Sekretärin. Manchmal waren ihre Gesprächspartnerinnen
zugeknöpft wie Nonnen. Im Laufe des Nachmittags kristallisierte sich heraus,
dass sie etwa bei der Hälfte der Männer persönlich die Daten hinterfragen
mussten — und damit vielleicht schlafende Hunde weckten.
„Sag mal“, schreckte Hellwein sie zwischen zwei Telefonaten auf.
„Hm?“
„Wie viel Lippenstift braucht ´ne Frau eigentlich so?“
„Hm? Was?“
„Wie viel Lippenstift ´ne Frau so braucht!“
„Was weiß denn ich?“, schnarrte sie ungehalten. So ziemlich das Letzte,
was sie in ihrem Leben interessierte, war Lippenstift.
„Du bist ´ne Frau!“
„Heinz!“ Die Betonung, die auf dem Vornamen lag, war Warnung und
Herausforderung zugleich. „Wahrscheinlich bewegt sich so was im
Milligrammbereich. Was soll das?“
„Ich mein ja nur, weil Tönnessen ihn beinahe kiloweise geordert hat.“
Er schaute von dem aufgeschlagenen Ordner hoch und setzte hinzu: „Von Geseke.“
„Geseke?“
„Genau!“
Susanne stand langsam auf und schlenderte zu seinem Schreibtisch
hinüber, die Zigarette im Mundwinkel. Als sie ihm über die Schulter schaute und
sich die Brille von der Stirn auf die Nase schob, sah sie es selbst. Tönnessen
schien in Gelddingen wirklich eine Fanatikerin gewesen zu sein. In dem
Haushaltsbuch, über dem Hellwein brütete, war rückwirkend bis 2006 mit
akribischer Genauigkeit jeder einzelne Cent ihrer privaten Ausgaben
aufgelistet.
Unter den Eintragungen für
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