Fehlschuss
Stimme und die
Angaben von Chris haben jetzt den Ausschlag gegeben.“
Langsam öffnete sie den Umschlag und legte ein Foto vor Chris. Er war
unscheinbar. Ein ganz normaler Mann, etwa Mitte vierzig mit vollem, dunklen
Haar und runden Wangen. Kein Höllengesicht aus einem billigen Horrorfilm, kein
Teufelshorn auf der Stirn. Chris war beinahe enttäuscht.
Trotzdem war seine Stimme nicht ganz fest, als er fragte: „Und wer ist
dieser Typ?“
Susanne kramte ihren allgegenwärtigen Block aus der Tasche. Als sie
endlich auch ihre Brille gefunden hatte, vergewisserte sie sich mit einem
kurzen Blick, dass sie die volle Aufmerksamkeit der beiden hatte.
„Also! Sein Name ist Carlos Viego.“ Ihre Stimme war geschäftsmäßig,
stellte Abstand her. „Vater Spanier, Mutter Deutsche. Viego ist in Deutschland
geboren und hat mal in dem einen und mal in dem anderen Land gelebt. Im Alter
von zehn Jahren erkrankte er an einer Kehlkopfentzündung, die zu spät erkannt
und behandelt wurde. Seitdem kann er sich nur flüsternd verständlich machen.
Nach Abschluss einer Schlosserlehre ist er endgültig nach Spanien gegangen.
Dort verliert sich seine Spur für sechs, sieben Jahre. 1995 wird er zum ersten
Mal mit organisiertem Verbrechen in Verbindung gebracht. Er macht den
Drogenkurier für Stoff, der aus Marokko über Spanien nach Mitteleuropa gebracht
wird. Kurz bevor er hochgenommen werden kann, taucht er unter.
Drei Jahre später erscheint er wieder auf der Bildfläche. Er erledigt
alles an Drecksarbeiten, was anfällt. Schutzgelder kassieren, Auftragsmorde.
Vermutlich gehen zwölf Morde auf sein Konto. In Spanien, Frankreich und den
Niederlanden. In acht Fällen hat er seine Opfer zuvor auf die verschiedensten
Arten gefoltert.
2008 unterläuft ihm der erste Fehler: Er erschießt den falschen Mann.
Danach hat man ihn wohl nicht mehr eingesetzt. Bis jetzt! In unserer Kartei
gibt es zwar keinen genetischen Fingerabdruck von ihm, aber wir sind trotzdem
sicher, dass er unser Mann ist. — Chris!“ Sie machte eine längere Pause und
legte die Fingerspitzen aneinander, millimetergenau.
„Chris! Wir sollten dich jetzt irgendwo sicher unterbringen“, begann
sie dann langsam. „Viego ist ein Auftragskiller, der vor nichts zurückschreckt!
Du weißt, wir haben diverse Möglichkeiten. Häuser, Wohnungen …“
„Quatsch!“ fuhr Chris auf. „Er ist verletzt und muss erst mal seinen
eigenen Arsch in Sicherheit bringen. Das hatten wir doch schon. Sag mir lieber,
wer sein Auftraggeber ist.“
„Chris, bitte …“ Susanne warf Karin einen Blick zu, die aber nicht
reagierte.
„Der Auftraggeber!“, verlangte er wieder, eine Spur kälter als beim
ersten Mal.
Susanne resignierte. „Höchstwahrscheinlich Manuel Viego, sein Onkel.
Er war einer der führenden Köpfe in Spanien, hatte sich auf Drogenhandel,
Prostitution und illegale Einwanderung spezialisiert. Konkurrenten oder Leute,
die aussteigen wollten, wurden gnadenlos von Carlos und Konsorten eliminiert.
Die spanischen Kollegen sind Manuel Viego vor etwa zehn Jahren ziemlich auf die
Pelle gerückt. Seitdem ist er wie von Erdboden verschluckt. Aber es ist
anzunehmen, dass er weiterhin seine Fäden zieht und auch eine schützende Hand
über seinen Neffen hält.“
„Drogenhandel — Prostitution — Tönnessen — Geseke“, schaltete Karin
sich ein.
„Richtig“, bestätigte Susanne. „Es ist gut möglich, dass Tönnessen
sich auf irgendwas eingelassen hat, was ihr letztlich nicht bekommen ist. Wir
sind in engem Kontakt zur spanischen Polizei. Wenn wir eine Verbindung Geseke —
Spanien — Viego herstellen können, klärt sich vielleicht einiges. Vielleicht!
Ihr beide passt zwar dann immer noch nicht ins Bild. Aber ich fürchte, das werdet
nur ihr allein klären können!“
Karin stand mitten in ihrem Wohnzimmer und hatte den Beinstumpf auf
den Griff der einen Krücke gelegt, um die Balance zu halten. Die andere Krücke
drehte sie nervös hin und her. Sie wusste ebenso wenig wie Chris, was sie jetzt
tun sollte. Wer hat schon alle seine Bücher im Kopf, seine CDs, Videos,
abgelegten Rechnungen? Wer weiß schon, ob von den alten Briefen, die man in
einem Schuhkarton verwahrt, einer fehlt, oder ob die Steuerunterlagen noch
komplett sind? Man kann vielleicht sagen: „Ich hatte zwölf Suppenteller, und
jetzt sind es nur noch elf“. Oder: „Meine blaue Bluse mit den hellen Streifen
ist weg“. Aber das war´s dann fast auch.
„Denk nach, Karin!“, verlangte
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