Fehlschuss
verstummten. Es
dauerte eine ganze Weile, bis er mitten in Ruth Rendells „Besucherin“ die
Stille wahrnahm. Dann jedoch mit solcher Gewalt, dass es fast in den Ohren
wehtat.
Mit einem Satz war er aus dem Sessel. Karin saß an die Wand gelehnt,
zwischen Regal und Schreibtisch. Das rechte Bein hatte sie angezogen und
massierte mit beiden Händen den linken Oberschenkel.
Chris hockte sich vor sie.
„Es ist nichts — geht gleich wieder vorbei.“
„Kann ich was für dich tun?“
„Kuss?“
„Karin!“
„He — es war bloß ein bisschen viel die letzten Tage, das ist alles!
Andere Leute kriegen Migräne, wenn sie Stress haben, mir tut halt mein Bein
weh! Wo, zum Teufel, ist der Unterschied?“
Er biss sich auf die Lippen und dachte an Onkel Zimmer, dem oft der
Fuß, den er längst nicht mehr hatte, so höllische Schmerzen bereitete, dass ihm
Tränen in die Augen traten.
„Chris! Bitte! Ich bin nicht aus Porzellan. Also fang nicht an, mich
in eine Vitrine zu setzen, klar!?“
Er schluckte und brachte ein heiseres „Klar!“ heraus.
„Gut! Wie ist das jetzt mit dem Kuss?“
Er ließ sich das nicht zwei Mal sagen. Aber irgendwie dämmerte ihm,
dass es nicht nur Karin war, die eine Menge zu lernen hatte.
Dreißig
Der nächste
Tag verlief genauso, wie der Nachmittag davor: Chris im Sessel, Karin über
ihren Karteikästen.
Aber er wurde zunehmend ungeduldig. Mittlerweile war Karin bei ihrer
Suche schon bis 2005 zurückgegangen, und so langsam musste er sich eingestehen,
dass sich seine vage Ahnung als Flop erweisen würde. Wen interessierten schon
Fotos, die vor mehr als sechs Jahren gemacht worden waren?
Aber Karin wollte das jetzt zu Ende bringen, bevor sie andere
Möglichkeiten in Betracht ziehen mussten. Also tigerte Chris in der Wohnung
herum, machte Mittagessen, goss die Blumen, starrte auf Karins gekrümmten
Rücken, lief wieder von einem Zimmer zum anderen. Die „Besucherin“ hatte jeden
Reiz verloren.
Als die übliche Geräuschkulisse der klappernden Karteikästen dieses
Mal verstummte, hörte er es gleich und rannte beinahe ins Arbeitszimmer.
Karin stand mitten in dem Chaos aus Ordnern und Unterlagen und stierte
zu Boden.
„Was ist?“ Seine Stimme klang rau und fremd vor Erregung.
„Toskana“, antwortete sie. „Die Toskana fehlt!“
„Bist du sicher?“ Mit zwei Schritten war Chris neben ihr.
„Ja, aber das ist völliger Blödsinn!“ Sie hob den Blick und runzelte
die Stirn. „Die Negative sind fast acht Jahre alt. Es war einer meiner ersten
Aufträge.“
Sie hatte das letzte Wort noch nicht ganz ausgesprochen, als sie
kreideweiß wurde. „Mein Gott“, murmelte sie. Sie schluckte und sagte dann
lauter: „Chris! Ich war diesen April wieder in der Toskana!“
Er brauchte einen Moment, um das zu verdauen. In seinem Kopf purzelte
mit einem Mal alles wild durcheinander. Am 20.April endeten die Eintragungen in
Inges Taschenkalender, am 22. April war sie mit ihren beiden Koffern bei
Gertrud Schmitz aufgetaucht, und ein paar Tage später hatte sie Karin die
Kamera gestohlen. Kurz davor war Karin in der Toskana gewesen. Und jetzt
fehlten uralte Negative?
„Du warst vor acht Jahren in der Toskana, hast Aufnahmen gemacht, und
die fehlen jetzt?“, vergewisserte er sich.
„Ja.“
„Und vor ein paar Wochen warst du wieder in der Toskana und hast
Aufnahmen gemacht.“
Sie nickte, die Kiesel weit aufgerissen.
„Karin!“ Er fasst sie hart am Arm und schob sie zur Couch. Sie ließ
sich einfach ins Polster fallen und lehnte die Krücken an den Glastisch, sah
aus, als hätte ihr jemand vor den Kopf geschlagen.
„Karin!“ Er bemühte sich, seiner Stimme einen ruhigen Klang zu geben,
diese Ruhe auf Karin zu übertragen. „Wo sind diese Negative?“
„Die waren nie hier, Chris. Ich habe die Entwicklung im Labor gemacht
und sie gleich zum Verlag gegeben. Die stellen jetzt die Abzüge her, und in
zwei oder drei Wochen setzen wir uns zusammen und entscheiden, welche Aufnahmen
in Frage kommen.“
In seinem Kopf kam ein Häkchen an „Punkt eins“.
„Was war in der Toskana?“
„Was soll schon gewesen sein? Ich hab mir einen Plattfuß gelaufen und
Bilder gemacht!“
So ging das nicht. So ging das ganz und gar nicht. Er hatte schon oft
mit völlig verwirrten Mandanten oder Zeugen gesprochen. Mit Menschen, die so
schockiert waren, dass sie keinen vernünftigen Satz herausbrachten und sich in
Allgemeinplätzen ergingen. Um brauchbare Aussagen zu bekommen, redete Chris
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