Fehlschuss
mehr los. Das Uhrwerk lief
zwar perfekt, aber womöglich in eine Richtung, die ganz und gar nicht stimmte.
Sie hätte gern mit Chris darüber gesprochen, aber sie sah auch, dass
er völlig fertig und erschöpft war. Und wie zur Bestätigung sagte Karin ihr die
letzten beiden Tage am Telefon immer nur: „Er schläft.“
Nun, auch ihr selbst steckte der Schrecken noch in den Gliedern. Sie
erinnerte sich an jedes Detail in dieser Nacht. Wie entsetzt sie war, als sie
begriff, dass Chris beinahe das dritte Opfer geworden wäre. Wie sie drauf und
dran war, die Kollegen in Münstereifel zu rufen, als er nicht mehr antwortete
und dann doch wie der Teufel losfuhr. Wie er da blutüberströmt lag und sie im
ersten Moment glaubte, er sei tot — ausgerechnet Chris, Peters bester Freund.
Sie dachte an Karin, die kaum eine halbe Stunde nachdem Susanne sie
angerufen hatte, in der Notaufnahme war. An ihre rote Jacke und den blauen
Gehstock, den sie nervös zwischen den Fingern drehte, ihr müdes Gesicht.
Schließlich besorgte Susanne zwei Becher Kaffee und wartete dann mit ihr
gemeinsam. Es war ein schweigsames Warten, das ihre Feindschaft auflöste.
Irgendwann sagte Karin, ohne sie anzusehen: „Sie mögen ihn sehr, hm?“
„Sie auch, oder?“
„Gott, wenn ich dieses Schwein erwische!“ Karin zerdrückte den leeren
Kaffeebecher in der Faust, und Susanne legte ihr beschwichtigend eine Hand auf
den Arm.
Da erst wandte sich Karin zu ihr und sagte bitter: „Keine Angst, ich
schlage niemandem mehr den Schädel ein.“
Susanne biss sich auf die Lippen. „Ich weiß“, erwiderte sie und setzte
leiser hinzu: „Ich hätte es letzte Woche schon wissen sollen. Es … es tut mir
Leid.“
„Ist schon okay. — Sie verrennen sich leicht, nicht?“
„Manchmal“, musste sie zugeben. Ganz unbewusst hatte Karin einen
wunden Punkt berührt. Ihre Ungeduld, die oft dazu führte, dass sie sich an der
falschen Stelle festbiss. Letztlich war es nur Angst, die sie so handeln ließ.
Eine Furcht, die sie seit dem Tod von Peter nicht mehr losließ. Er leitete als
Hauptkommissar im Wach- und Wechseldienst eine Alkoholkontrolle und hielt
zufällig einen kleinen Hehler an. Gegen den lag zwar ein Haftbefehl vor, aber
weil die Kollegen vom Raubdezernat an einem großen Fall arbeiteten, war er noch
nicht vollstreckt worden. Es war einfach nicht „wichtig“. Wie falsch diese
Einschätzung war, zeigte sich bei der Kontrolle. Der Hehler geriet in Panik,
zog eine Waffe und traf Peter Braun tödlich.
Seitdem steckte in ihr die tiefe Angst, zu spät zu kommen, eine
Verhaftung vielleicht nicht schnell genug vorzunehmen — wie die Kollegen
damals. Und diese Angst verbarg sie hinter Ungeduld und Härte. Sie wusste seit
Jahren, warum sie sich so verhielt — im Kopf jedenfalls wusste sie das.
Ausschließlich im Kopf! Bis diese große Frau mit diesem einen Satz ein Leck
schlug, das dieses Wissen irgendwohin sickern ließ, wo Susanne es weiß Gott
nicht haben wollte.
Und wieso sie plötzlich dachte, dass Karin ihr sympathisch werden
könnte, war ihr ein Rätsel.
Das war vor zwei Tagen gewesen. Zwei Tage, die sie nicht nur mit
diesem unguten Gefühl im Bauch zubrachte, sondern auch mit bitteren
Selbstvorwürfen. Wäre sie dem Hinweis von Hellwein am Dienstagabend gefolgt und
hätte Chris über Geseke informiert, wäre er sicher nicht auf den nächtlichen
Anrufer hereingefallen, da er ja davon ausgehen musste, der Täter sei gefasst.
Und genau da lag der wunde Punkt: Der Mordanschlag auf ihn hatte nach Gesekes Verhaftung stattgefunden. Sie sprach mit Zenker darüber, der ihren
Einwurf jedoch mit der Vermutung abtat, Geseke habe nach seiner Verhaftung
keine Gelegenheit mehr gehabt, seine Befehle zurückzunehmen.
Also behielt Susanne ihr so unbestimmtes Gefühl für sich. Aber
irgendwie war ihr klar, dass all die hektische Aktivität, die die Polizei an
den Tag legte, weder den Mordversuch an Chris noch diese seltsame
Einbruchsgeschichte bei Karin aufklären konnte. Und das machte sie nervös, ließ
sie nicht zur Ruhe kommen. Und wenn sie ehrlich gewesen wäre, hätte sie zugeben
müssen, dass sie Angst hatte, ganz erbärmliche Angst.
Als Hellwein ihr dann vor einer Stunde auch noch die Identität des
mutmaßlichen Mörders präsentierte, wuchs ihre Nervosität so sehr, dass sie kaum
noch ruhig sitzen konnte. Sie versuchte sich abzulenken, indem sie alle
Nachkommen, die wie kleine Antennen aus der Grünlilie herauswuchsen, wegschnitt
und mit
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