Fehlschuss
Inge sagen? Freunde, Verwandte und so?“
Karin blies wieder die Wangen auf. „Nicht viel, fürchte ich.
Gemeinsame Freunde hatten wir nie. Ich bin mal mitgefahren zu ihrer Mutter. Die
lebt irgendwo in der Nähe von Bad Münstereifel. Sie fuhr gerne dahin. Ich
glaube, weniger wegen ihrer Mutter, sondern weil sie lange Spaziergänge dort im
Arloffer Wald liebte. Aber wir haben nie so eng zusammengegluckt, als dass ich
großartige Details kennen könnte. Ich weiß nicht einmal genau, wo sie früher
gewohnt hat. Sie ist hier damals mit zwei Koffern angekommen. Und als ich sie
rausgeworfen habe, hat sie die Koffer wieder mitgenommen. Vielleicht sollten
Sie mal bei ihrer früheren Arbeitsstelle nachfragen. Sie war beim Kaufhof in
der Herrenmodenabteilung.“
Kurz darauf gab es nichts mehr, womit Chris seinen Abschied hätte
hinauszögern können. Außer vielleicht, die Erkenntnisse zu vertiefen, die er in
acht Jahren mit einer humorlosen Ärztin gewonnen hatte. Aber dafür war er nun
wirklich nicht hergekommen.
Sie jetzt zum Kaffee einladen, fragen, ob sie miteinander essen
gingen! Aber seine Zunge war wie Blei, das Gehirn aus Pudding. Und Karin kam
ihm nicht einen Schritt entgegen.
Sie ließ ihn einfach gehen.
Sieben
Zutiefst verwirrt
fand Chris sich ein paar Minuten später in seinem Wagen wieder. Ein Blick in
den Rückspiegel bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen! Sein Gesicht
glänzte wie eine überreife Tomate.
„Kunststoff und Metall. — Kein Fleisch und Blut!“
Und dann wusste er es wieder. Onkel und Tante Zimmer, Nachbarn aus
seiner Kindheit. Solange sie nebeneinander gewohnt hatten, waren die beiden
alten Leute eine Art dritte Großeltern für ihn gewesen und er der Enkel, den
die Zimmers nie hatten. Onkel Zimmer hatte sein linkes Bein „in Stalingrad
stehenlassen“, wie er immer sagte. Und bei ihnen, in der kleinen Küche, hatte
es einen Servierwagen und einen einsamen Stuhl gegeben.
Chris sah Onkel Zimmer den mit Geschirr beladenen Wagen mit seinen
Krücken vor sich her stoßen, um im Wohnzimmer den Tisch zu decken. Er sah ihn
in der typischen Haltung dastehen, wenn er für irgendwas zwei Hände brauchte.
Die eine Krücke neben sich abgestellt, den Beinstumpf auf dem Griff der anderen
und so das Gleichgewicht haltend. Er sah, wie der Stuhl herangezogen wurde,
wenn Onkel Zimmer müde war und seiner Frau trotzdem beim Abwasch helfen wollte.
Erinnerte sich plötzlich, wie es gewesen war, wenn er mit ihm einkaufen oder
spazieren ging. Wie die Leute Onkel Zimmer manchmal anstarrten. Einmal sagte
sogar die Verkäuferin in der Bäckerei zu dem kleinen Jungen, er solle ja immer
lieb zu dem Großvater sein, wo der doch so krank war. Der sieben- oder
achtjährige Christian war viel zu erschrocken gewesen, als dass er den Irrtum
mit dem Großvater hätte aufklären können. Onkel Zimmer und krank? Krankheit,
das war Schnupfen oder Masern. Etwas, womit man nicht in die Schule durfte,
weil man „ansteckend“ war. Auf die Idee, dass die Verkäuferin das Bein von
Onkel Zimmer gemeint haben könnte, kam er nicht. Das war weder ansteckend, noch
machte es Fieber.
Als sie das Geschäft verlassen hatten, fragte er zögerlich: „Onkel
Zimmer? — Bist du etwa krank?“
Der alte Mann lachte schallend, wischte sich noch die Tränen aus den
Augenwinkeln, als er dem kleinen Chris antwortete: „Nein, mein Junge. Nein, ich
bin nicht krank. Mir fehlt nur ein Bein, das ist alles. Lass dich nicht
verrückt machen von den Leuten.“
Mit zehn oder elf fragte Chris ihn dann in kindlicher Neugier, warum
er keine Prothese trug. Es war ein heißer Sommertag, und Onkel Zimmer saß in
Shorts und Unterhemd auf dem Balkon. Auf die Frage des Kindes antwortete er mit
einem ernsthaften, beinahe medizinischen Vortrag. Er zog die Shorts hoch und
zeigte seine Narben. Erklärte, dass viele Oberschenkelamputierte unter
Schmerzen litten, die sich mit einer Prothese um ein Vielfaches verstärkten.
Dass es anstrengend war, mit einem gefühllosen Klotz am Bein zu gehen.
Anstrengender als sich auf zwei Krücken durchs Leben zu schwingen. Dass man
sich den Tag gut einteilen müsste, weil es kaum möglich war, vierzehn, sechzehn
Stunden lang dieses „Ding“ zu tragen. Ihm jedenfalls sei der Preis für ein
bisschen mehr Beweglichkeit und freie Hände zu hoch gewesen.
Ganz sicher gab es heute bequemere und modernere Prothesen als zu
Onkel Zimmers Zeiten. Trotzdem fragte Chris sich, welchen Preis wohl Karin
zahlte, die ohne Zweifel
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