Fehlschuss
in ihrem Beruf beweglich sein musste und freie Hände
brauchte.
Diese Kieselaugen!
Zum Teufel damit! Zornig schlug er mit der Faust auf das Lenkrad. Er
war hierher gefahren, um Informationen über Inge Lautmann zu bekommen, und
stattdessen ließ er sich von diesen verfluchten blauen Augen betören und einer
so erschreckenden Direktheit, dass sie schon wieder charmant war. Was war los
mit diesem Riesenbaby? Was war das für eine Frau, die in der einen Sekunde
tieftraurig war und dann wieder flirtete wie Grace Kelly? Wovon lenkte sie ab?
Nein, irgendwie gingen seine Überlegungen in die Irre. Karin gehörte
zu der Sorte großer Menschen, die keiner Fliege etwas zu Leide tun können. Und
wenn sie einfach ausgerastet war? Wenn sie gestern Abend einfach zugeschlagen
hatte und …? Oh Sprenger — wenn du dich jemals auf etwas verlassen konntest,
dann auf deine Menschenkenntnis. Und Karin Berndorf war keine Frau, die glühende
Zigaretten auf anderer Leute Brust ausdrückt!
Was also jetzt? Das Notizbuch fiel ihm wieder ein. Es wurde wirklich
höchste Zeit, es bei Susanne abzuliefern. Vorher aber musste er die Namen und
Telefonnummern aus dem Adressteil notieren, ebenso diese seltsamen Kürzel.
Vielleicht konnte Tinni ja was damit anfangen. Karins Hinweis auf Prostitution
hatte ihn auf die Idee gebracht. Wenn sich jemand in der Szene auskannte, dann
Tinni. Und wenn die Gerüchte, die Karin gehört hatte, stimmten, dann waren die Abkürzungen
und Uhrzeiten nichts anderes als Verabredungen mit diversen Freiern.
Chris kurbelte das Seitenfenster herunter. Es war stickig geworden im
Wagen, obwohl er im Schatten einer Platane stand. Dann kramte er im
Handschuhfach nach einem Stück Papier und einem Stift. Dabei fand er seine so
schmerzlich vermisste silberne Krawattennadel, eins der wenigen
„Schmuckstücke“, die er besaß. — Wie, zum Teufel, war sie ausgerechnet ins
Handschuhfach geraten?
Und wenn Karin Berndorf doch etwas verheimlichte? Wenn dieser
wunderbare kleine Flirt nur ein Ablenkungsmanöver war? Von was auch immer?
Sprenger, hör auf damit!
Er war bei der letzten Eintragung angelangt, als er instinktiv den
Kopf hob. Eine Sekunde später trat Karin aus dem Haus. Eine große Fototasche über
der Schulter und offensichtlich in Eile. Mit einem leuchtend blauen Gehstock in
der rechten Hand stürmte sie beinahe die Straße hinunter und stieg dann in
einen schwarzen Golf. Dazu fasste sie unter ihren linken Oberschenkel und hob
das Bein in den Wagen. Chris erinnerte sich an den weißen Audi von Onkel Zimmer
und den kleinen Schaltknüppel des Automatikgetriebes, den er manchmal auf
Anweisung des alten Mannes bedienen durfte.
Er fuhr dem Golf einfach hinterher. Zum einen, weil er mit seinen
Aufzeichnungen fertig war und zu Susanne wollte, zum anderen — ja wozu? Weil er
in der Nähe der graublauen Augen bleiben wollte? Weil er die Gelegenheit, eine
Verabredung zu treffen, verpasst hatte und auf eine zweite Chance hoffte? Weil
die Frau verdächtig war? Sprenger, du vertrödelst deine Zeit! Sie fotografiert
eine Hochzeit — hatte sie doch gesagt. Trotzdem, er konnte nicht anders.
Karin fuhr genauso, wie sie war: Zügig, direkt und ohne Schnörkel.
Kaum zehn Minuten später parkte sie gegenüber Sankt Maria Empfängnis in
Raderberg. Auf dem Vorplatz der weiß getünchten Kirche waren eine Menge Leute
versammelt. Und es sah unzweifelhaft nach Hochzeit aus. Chris glaubte, im
Vorbeifahren sogar den Bräutigam zu erkennen.
Was hatte er denn erwartet? Dass Karin schnurstracks zum Tatort
zurückfuhr? Dass sie aus irgendeiner Lagerhalle in der Hünefeldstraße
belastendes Material holte? Dass sie an sein Auto trat und sagte: „Hallo,
schöner Mann. Wie wär´s mit einem Glas Wein?“ Es war lächerlich, einfach nur
lächerlich!
Sein Blick streifte die Digitaluhr im Armaturenbrett. Zum Einkaufen in
den kleinen Läden seines Viertels war es jetzt also auch zu spät! Wütend
überschlug er seinen Bestand im Tiefkühlfach. Wohl oder übel musste der übers
Wochenende reichen, wenn er kein überfülltes Einkaufszentrum entern wollte oder
schlimmer noch, in Yuppie-Manier eine Tankstelle heimsuchte.
Durch die kurze Verfolgungsfahrt war er ziemlich vom Weg abgekommen,
und es dauerte eine Weile, ehe er sich im Gewirr kleiner Einbahnstraßen soweit
orientiert hatte, dass er Richtung Innenstadt fuhr. Vor der Deutzer Brücke
geriet er in den üblichen Stau. Er konnte sich kaum noch erinnern, wie es war,
zügig auf die andere
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