Fehlschuss
rot in der tiefstehenden Sonne. Ein paar
Tauben trippelten vor ihm her und pickten in den Ritzen zwischen dem
Kopfsteinpflaster. Ihr leises Gurren erinnerte ihn an ein Schlaflied, das seine
Mutter früher gesungen hatte.
Chris schlenderte jetzt durch enge Gassen, in die sich kaum noch
Touristen verirrten. In den schmalen Fachwerkhäusern mit den krummen Spitzgiebeln
hatten sich viele Kunsthandwerker angesiedelt, und neben edlen Restaurants fand
man Absteigen der übelsten Sorte. Als er einen kleinen Brunnen erreichte, auf
dessen Rand einige händchenhaltende Pärchen saßen, bog er links ab. Nur eine
Häuserzeile trennte ihn noch von Rhein, und in der Luft hing plötzlich der
leicht modrige Geruch des Flusses.
Die sonst so grelle Leuchtreklame des „Caribbean Club“ war noch
dunkel. Chris schlüpfte durch die schmale Toreinfahrt, hinter der sich das
Bordell von Tinni befand. Trotz der frühen Stunde stand Michi, der Türsteher,
schon im Innenhof. Deutlich zeichneten sich seine Muskeln unter dem weißen
T-Shirt ab, und Chris dachte wieder einmal, dass er niemandem wünschte, mit ihm
aneinander zu geraten. Michi grinste ihn breit an und ließ ihn nach einer
herzlichen Begrüßung hinein.
Es dauerte ein paar Sekunden, ehe er sich an das schummrige Licht
gewöhnt hatte. Der Raum war beinahe überfüllt mit künstlichen Palmen. Im
vorderen Teil herrschte die plüschige Atmosphäre einer Bar. Aber Chris wusste,
dass sich im hinteren Teil des Gebäudes und in den beiden Stockwerken darüber
Séparées verbargen, Whirlpools, eine Sauna, einfache Zimmer und Räume, die an
Folterkammern erinnerten — was man eben so brauchte, um die mehr oder weniger ausgefallenen
Wünsche der Kundschaft zu erfüllen.
Wirklich legal war das alles nicht. Wer zur „Prostitution aufforderte“
oder entsprechenden Wohnraum vermietete, bekam normalerweise keine Konzession
für einen Barbetrieb. Aber es gab eine Toleranzgrenze bei den Behörden, die
Tinni voll ausschöpfte. Im Gegenzug gab es bei ihr keine Schlägereien, keine
Drogen, und sie zahlte pünktlich ihre Steuern.
An der kreisrunden, großzügig angelegten Bar lümmelte sich ein halbes
Dutzend leicht bekleideter und offensichtlich gelangweilter Frauen.
„Tach, Herr Doktor“, grüßte die, die der Tür am nächsten saß, lässig.
„Hallo, Helma!“, rief Chris und überquerte mit langen Schritten die
Tanzfläche. „Alles in Butter?“
„Klar doch! — He, Mädels, der Herr Doktor ist da!“
Das allgemeine freundliche „Hallo“ erwiderte er mit einem Winken. Er
kannte die meisten von Tinnis Mädchen schon lange.
Viele von ihnen waren bereits eine halbe Ewigkeit hier und blieben,
bis sie zu alt wurden für den Job. Sie wurden gut bezahlt, hatten geregelte
Arbeitszeiten und Tinni entrichtete für alle die Beiträge zur
Sozialversicherung. Leider war das eher die Ausnahme als die Regel. Er wusste
nur zu gut, dass Zwangsprostitution, Zuhälterei und Gewalt das Milieu prägten.
Mit einem Mal übertönte die gewaltige Stimme von Tinni das Geplauder
der Frauen an der Theke. „Dass es dich noch gibt!? Dachte schon, du wärst in
Pension gegangen!“
Mit erstaunlicher Geschwindigkeit bewegte sie ihre drei Zentner auf
Chris zu und breitete die Arme aus. In der Szene hieß sie nur die „Venus von
Kilo“, eine durchaus liebevoll gemeinte Umschreibung ihrer Leibesfülle. Tinni
trug diesen Spitznamen denn auch genauso stolz wie ihre Pfunde.
„Komm an meinen Busen, du alter Gauner!“
Augenblicke später versank Chris in Seide, Fleisch und unglaublich
großen Brüsten. Der Duft frisch gewaschener Haut und der aufdringlich-süße
Geruch von Chanel No. 5 hüllten ihn ein.
Kurz bevor er blau anlief, entließ Tinni ihn aus ihrer Umklammerung,
fasste ihn an den Oberarmen und hielt ihn ein Stück von sich weg. Auf ihrem
feisten, freundlichen Gesicht lag ein strahlendes Lachen. Wenn sie jemanden in
ihr Herz geschlossen hatte, dann für alle Zeit und ohne Wenn und Aber.
„Du isst natürlich mit uns“, würde sie jetzt sagen. Chris kannte die
Spielregeln. Erst das Vergnügen, dann das Geschäft.
„Du isst natürlich mit uns“, sagte Tinni und schob ihn vor sich her in
einen großen Raum, dessen Einrichtung die verschiedensten Epochen
wiederspiegelte. Ein Sofa, das dem von Chris nicht unähnlich war, wurde
eingerahmt von zierlichen Jugendstiltischchen, auf denen fragile Tiffany-Lampen
standen. Die beiden wuchtigen Schränke, die mit Ornamenten bedeckt waren,
beeindruckten ihn immer
Weitere Kostenlose Bücher