Fehlschuss
vernagelt.
Eine Minute nach sechs bog er mit schweißnassen Händen in die kleine
Straße am Klettenbergpark ein. Es fehlte nicht viel, und er hätte durch die
Zähne gepfiffen. Karin lehnte lässig an der Motorhaube ihres Golfs und sah
verteufelt gut aus! Über hellen Jeans trug sie eine nachtblaue lockere Bluse
mit Stehkragen, die ihre breiten Schultern etwas kaschierte. Die goldenen
Saphirohrstecker harmonierten perfekt mit den graublauen Augen und dem Hauch
von Lidschatten, den sie aufgelegt hatte. Offensichtlich hatte sie sogar
versucht, ihre Locken zu bändigen. Jedenfalls waren sie beinahe brav nach
hinten gekämmt.
Sie lotste ihn geradewegs aus der Stadt nach Süden. Am Ortsrand von
Liblar dirigierte sie ihn in eine winzige Sackgasse, wo er den Wagen abstellte.
Gleich hinter den Häusern begann ein Waldstück, in dessen Mitte ein
kleiner See lag. Eines der vielen Gewässer, die der Braunkohletagebau
hinterlassen hatte und die heute zum Naturschutzgebiet Kottenforst-Ville
gehörten.
Im Wasser spiegelte sich das noch frische Grün der Bäume. Vereinzelte
Sonnenstrahlen, die durch die Blätter drangen, brachen sich auf der
Wasseroberfläche und wurden als glitzernde Punkte zurückgeworfen.
Schon längst waren sie ins Plaudern geraten, immer wieder unterbrochen
von Karin, die auf dieses oder jenes Gewächs aufmerksam machte. Auf einen
mächtigen Ahornbaum zum Beispiel, der wie ein Schirm über einer Sandbank
thronte, oder auf die vielen gelben Blüten am Wegesrand. Chris hatte sie
natürlich für Löwenzahn gehalten und lernte jetzt, dass es sich um
Habichtskraut handelte, das häufig in etwas steinigen Böden wuchs. Und ohne
Karins Hinweis hätte er die unscheinbaren Blüten des Nickenden Leimkrauts
völlig übersehen.
Dann wieder deutete sie mit dem blauen Gehstock auf ein Eichhörnchen,
das vor ihnen einen Birkenstamm hochschoss und zu einem Tannenhäher, der laut
keckernd aufflog.
Als sie eine Stelle erreichten, wo der Waldboden mit einem Meer von
weißen Anemonen bedeckt war, blieb er stehen. Anemonen erkannte er zumindest,
hatte sie aber seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen.
„Seit ein paar Jahren wachsen sie hier wieder“, erklärte Karin, als
hätte sie seine Gedanken gelesen. „Wir sollten am Wochenende in die Eifel
fahren. Ganze Wälder sind da voll mit ihnen.“
„Gern!“ Chris ging in die Hocke und berührte eine der zarten Blüten
mit dem Finger. Plötzlich wurde ihm klar, wie sehr diese Frau da neben ihm
alles liebte, was wuchs und gedieh. Wie sehr sie an Lebensformen hing, die ohne
Korsetts und menschlichen Einfluss entstanden — und wenn es nur weiße Anemonen
waren.
„Sie sind gern in der Natur, nicht?“, stellte er fest und erhob sich.
„Entschuldigung. Ich mache Sie verrückt mit meinen Leidenschaften!“
Chris blieb stehen und kratzte all seinen Mut zusammen. „Ganz und gar
nicht. Ich mag leidenschaftliche Frauen.“ Und mit Genugtuung sah er, dass auch
eine Karin Berndorf rot werden konnte bis in die Haarwurzeln.
Sie wandte sich schnell ab und zeigte ihm ein Schwanennest, das
zwischen niedrigem Buschwerk am Ufer klebte. Graue Flaumfedern rundherum
deuteten auf Nachwuchs hin. Und wie auf Kommando kam Mama Schwan lautlos über
den See auf sie zu geschwommen. Im Schlepptau fünf eisgraue Federbündel. Papa
Schwan kreuzte hinter seiner Familie, die Schwingen ein wenig abgespreizt,
jederzeit bereit zum Angriff. Karin und Chris traten den Rückzug an.
Als sie den See gut zur Hälfte umrundet hatten, bemerkte er die feinen
Schweißperlen auf ihrer Stirn. Wie beiläufig steuerte er eine Bank nahe dem
Ufer an.
Sie saßen eine ganze Weile schweigend nebeneinander, beobachteten, mit
welcher Verzögerung die leichten Wellen, die Papa Schwan verursachte, ans Ufer
trafen.
Nicht der kleinste Wimpernschlag deutete an, ob Karin seine Geste
wahrgenommen hatte, bis sie plötzlich sagte: „Was man am schlechtesten kann,
tut man immer am liebsten, oder?“
„In die Eifel fahren wir ohne das alte Mädchen, hm?“
Karin grinste. „Wenn Sie es aushalten, dass man uns anstarrt wie ein
Weltwunder — mir soll´s recht sein.“
Die kleine griechische Taverne, die Karin ausgesucht hatte, lag
zwischen der Sackgasse und dem See. Die wenigen Tische waren diskret durch
Blumenbänke und orientalische Wandbehänge getrennt. Alte Zupfinstrumente hingen
an den Wänden, und im Hintergrund sang Maria Farantouri leise von Revolution
und Liebe. Am spektakulärsten war allerdings der Blick auf
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