Fehlschuss
nicht an Karin denken, an
Plastikschachteln, die er eigentlich hätte aufheben müssen, und schon gar nicht
an seine Wohnung, die auf ihn wartete wie ein Krake. Um ihn das ganze
Wochenende einzuschnüren in Kieselaugen und Lachfalten.
Trotzdem musste er nach Hause. Duschen, die Klamotten wechseln, diesen
dumpfen, sauren Geruch loswerden, der seit dem Mittag an ihm zu haften schien.
Einundzwanzig
Es war nur ein
kleiner Umweg, der durch Karins Straße führte. Klingeln, sie in die Arme nehmen
… sich wütend niedermachen lassen … sich entschuldigen … rausgeschmissen werden
… Alles schien besser als dieses Schweigen.
Er traute sich nicht einmal, aus dem Wagen zu steigen.
Um acht ertappte er sich dabei, dass er wie ein Tiger in seiner
Wohnung herumlief. Von einem Ende zum anderen. Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer,
Arbeitszimmer. Arbeitszimmer, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche. In seinem Kopf
vermischte sich dabei diese ganze vergangene Woche zu einem unentwirrbaren
Knäuel. Je mehr er versuchte, Klarheit zu bekommen, desto mehr verwickelte sich
alles. Nach einer Weile fand er nicht mal mehr den Anfang des Fadens, vom Ende
ganz zu schweigen. Nichts passte mehr zusammen. Nicht in diesem vertrackten
Fall und nicht in seinem Herzen.
Lea — das war seine einzige Rettung! Mit ihrer scharfen Zunge konnte
sie — je nach Laune — Wutanfälle oder Lachkrämpfe bei Totgesagten auslösen.
Nach außen gab sie sich gern oberflächlich und leichtfertig. Die Frau, die
Thekenrunden gab, derbe Witze riss und mit ihrem Mundwerk und dem feuerroten
Stoppelhaar überall auffiel. Dass sich dahinter ein hochsensibler Mensch
verbarg, dessen feinen Antennen selten etwas verborgen blieb, wussten nur wenige.
Chris floh regelrecht aus seiner Wohnung und fuhr zurück in die Stadt.
Wie immer plärrte die Musikbox im „Mainzer Hof“ zu laut. Schon auf der
Straße hörte er „I am what I am“. Einen Moment lang blieb er neben der Tür
stehen, um sich im schummrigen Licht des Lokals zu orientieren. Sein linker Fuß
wippte im Rhythmus der Musik unwillkürlich mit.
Er hatte den Laden noch nie leer erlebt. Aber heute war es besonders
voll. Jeder Platz war besetzt, die Kellner wuselten mit Kölschkränzen hin und
her, und an der Theke standen die Gäste in Dreierreihen. Im hinteren Teil waren
Tische zusammengeschoben worden, und eine große Gruppe Frauen feierte dort
offenbar Junggesellinnenabschied. Jedenfalls schienen sie betrunken genug
dafür.
„Ah — der Rächer der Enterbten!“ Lea gabelte ihn schon auf, bevor er
sich zur Theke durchkämpfen konnte. Ihre veilchenblauen Augen blitzten
vergnügt. „Unser charmanter Anwalt scheint etwas abgespannt!“
„Vergiss es“, grummelte er, genoss aber ihre lange Umarmung. Er roch
Pfirsich und einen Hauch Aprikose, unverkennbar Leas Duschgel.
„Im Ernst“, sie hakte sich unter und bahnte einen Weg zu ihrem
Stammplatz an der Durchreiche. „Du siehst aus, als wärst du unter die
Straßenbahn gekommen. Oder bist du mit deinem Staatsanwalt Zenker zusammengerasselt?“
„Schlimmer!“
„Jetzt lass dir nicht jeden Wurm einzeln aus der Nase ziehen!“ Sie
nippte an ihrem Wein und musterte Chris aufmerksam, der das Bier, das ihm die
Wirtin unaufgefordert hingestellt hatte, fast in einem Zug austrank.
Er erhielt einen Stoß in den Rücken, worauf ein gelalltes
„`Tschulligung“ folgte. Gleich darauf schepperten irgendwo ein paar Gläser zu
Boden. Ein grauhaariger Typ, dessen Gesicht ihm vage bekannt vorkam, haute ihm
kumpelhaft auf die Schulter, ehe er Richtung Toiletten wankte. Warum, um alles
in der Welt, war er bloß hierhergekommen? Dieses Gewirr schwitzender,
trinkender Leiber machte ihn plötzlich wahnsinnig. Die laute Musik, die einen
zwang, sich beinahe brüllend zu unterhalten, tat ihm in den Ohren weh. Der
Geruch von Sauerbraten, der aus der Küche herüberwaberte, war ihm zuwider, und
das Bier schmeckte eigentlich scheußlich. Wieso hatte er sich nicht einfach mit
einer Flasche Whisky ins Bett verkrochen? Entnervt knallte er sein Glas auf die
Theke.
Das „Gute-Laune-Spiel“ von Lea änderte sich schlagartig. Sie rückte
nah an ihn heran und legte den Arm um seine Schultern. „So schlimm?“, rief sie
ihm dabei ins Ohr. Trotzdem hörte er die Zärtlichkeit in ihrer Stimme.
„Merkt man das?“, knurrte Chris. Verdammt, es fehlte nicht viel, und
er hätte losgeheult. Aber Männer heulten schließlich nicht.
Lea umfasste ihn fester. „Puh, mein Engel! Dich
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