Fehlschuss
dass nie jemand
erfahren dürfte, dass sie hier war. Was … was auch immer passiert! Und den
Umschlag sollte ich … verbrennen.“
Und wieder vergaß Chris, Luft zu holen. In seinem Kopf brannte nur
„Umschlag“. Das konnte alles bedeuten. Ein Testament, ein Geständnis, eine
Anklage, gar nichts. Es kostete ihn all seine Selbstbeherrschung, sein
Gegenüber nicht zu schütteln.
„Sie hat Ihnen einen Umschlag in Verwahrung gegeben?“, fragte er,
nachdem er endlich wieder zu Atem gekommen war.
Nicken.
„Und den sollten Sie verbrennen, wenn ihr etwas passiert?“,
sekundierte er weiter.
Nicken.
„Haben Sie diesen Umschlag verbrannt?“
Kopfschütteln.
Chris ballte die Hände zu Fäusten, um seine Anspannung unter Kontrolle
zu halten. „Würden Sie … Würden Sie mir diesen Umschlag geben?“, fragte er mit
belegter Stimme.
„Nein, nein!“ Schmitz schien ob dieses Ansinnens schockiert. „Ich darf
ihn nicht aus der Hand geben! Niemals!“
„Frau Schmitz! Inge ist tot!“ Chris war so ziemlich am Ende seiner
Geduld angelangt.
„Aber sie hat doch gesagt … ich bin ihr doch verpflichtet …“
„Sie ist tot“, wiederholte er und wunderte sich, woher seine Ruhe kam.
„Sie wurde auf äußerst scheußliche Art und Weise umgebracht. Und vielleicht
würde dieser Umschlag helfen, ihren Mörder zu finden.“
Aber sie schüttelte nur den Kopf, immer und immer wieder, wie um sich
selbst einzuhämmern, die Anweisung von Inge um jeden Preis befolgen zu müssen.
„Frau Schmitz“, sagte Chris leise. Er kam sich vor, wie ein
Schlangenbeschwörer. „Wie wäre es, wenn wir gemeinsam in den Umschlag schauen,
und dann entscheiden Sie, was damit geschehen soll?“
Sie überlegte. Lange Zeit. Etliche Sekunden, die seine Ungeduld schier
ins Unendliche steigerten. „Du hast Hummeln im Hintern!“, hätte seine Mutter
jetzt gesagt.
Schließlich sah Schmitz ihn an. „Meinen Sie wirklich?“, fragte sie
zweifelnd.
Chris nickte heftig. Endlich stand sie zögernd auf und verschwand im
Nebenzimmer. Auf ihrer Stirn lagen tiefe Falten. Offensichtlich dachte sie
angestrengt darüber nach, ob das Versprechen, das sie einer Lebenden gegeben
hatte, für eine Tote noch von Bedeutung war.
„Mach schon!“, murmelte Chris mit zusammengepressten Lippen, als sie
nach nebenan ging. „Hol ihn. Er ist wichtig. Ich weiß, dass er wichtig ist!“
Und noch etwas war wichtig: Wenn Inge dieses Dokument und die
entsprechenden Anweisungen hinterlegt hatte, musste sie gewusst haben, dass sie
ein gefährliches Spiel spielte. Was auch immer das war.
Als Schmitz zurückkam, trug sie einen braunen DIN-A 5 Umschlag mit
beiden Händen vor sich her, fast wie ein Priester den Kelch bei der Wandlung.
Dann setzte sie sich neben Chris auf die Couch und gab ihm den Umschlag, ohne
ihn anzusehen.
Er zog zwei Blätter daraus hervor. Sie waren eng, aber sauber in Spalten
eingeteilt: Name, Vorname, Titel oder Beruf, manchmal eine Telefonnummer. Die
letzte Spalte war jeweils gespickt mit Abkürzungen, auf die er sich zunächst
keinen Reim machen konnte. Aber er ahnte deren Bedeutung: Vorlieben und
Praktiken der ausschließlich männlichen Mitglieder eines zweifelhaften Clubs,
verpackt in Kürzel und Codeworte, die Kenner der Szene ohne Probleme
entschlüsseln würden.
„Heureka!“, murmelte er, als er endlich begriff, was er da in Händen
hielt.
Er war beinahe euphorisch, als er Richtung Büro fuhr. Es hatte nicht
mehr viel Überredungskunst erfordert, dass Gertrud Schmitz ihm den Umschlag
samt Inhalt anvertraute. Offenbar hatte sie keine Vorstellung davon, was diese
Liste beinhaltete. Sie wusste nur, dass Inge sie als Kapital bezeichnet hatte.
„Das ist mein Grundkapital, wenn ich mich auf eigene Beine stelle, du wirst
sehen!“, hatte sie mehr als einmal gesagt.
Im Grunde lag er mit seiner Theorie also doch richtig. Inge wollte das
Geschäft allein machen, nicht nur sporadisch mit einzelnen Freiern, sondern im
großen Stil. Dann allerdings passte der Mord an Tönnessen nur, wenn ihre
Begleitagentur noch ein paar Nummern größer war, als sie bisher angenommen
hatten.
Vielleicht war sie in einem ganzen Netzwerk von Vermittlungen so eine
Art Filialleiterin gewesen. Und als die Bestrafung von Inge tödlich endete,
bekam sie kalte Füße und drohte den Hintermännern. Und natürlich verurteilten
genau diese Hintermänner Tönnessen zum Tode. Das war so üblich in der Branche.
Die polizeilichen Ermittlungen würden nun in zwei Richtungen
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