Fehlschuss
verbannen, stürzte er sich auf
die Ermittlungsakten, nachdem Lea gegangen war. Er lag im Wohnzimmer auf dem
Parkettboden und hatte Tatortberichte, Fotos und Protokolle wild um sich
verteilt. Der ebenfalls kopierte Kartenausschnitt von dem Gebiet um den
Arloffer Wald lag etwas weiter weg und diente als Untersetzer für sein
Bierglas. Die Karte war nicht weiter wichtig, und die feuchten Kränze, die das
Glas hinterließ, spielten keine Rolle. Besser da drauf, als auf dem Parkett.
Chris versuchte Ordnung zu schaffen in dem Papierberg und in seinem
Kopf. Zwei Stunden lang. Aber immer wieder begegnete ihm der Name Berndorf auf
dem Papier und brachte seinen Kopf in Unordnung. Bis schließlich rote Krücken,
Pflastersteine, Protokolle, Aussagen und Kieselaugen ein heilloses Chaos
bildeten, dem er mit seinem geliebten Whisky zu entkommen versuchte. Irgendwann
hallten nur noch zwei Sätze in ihm wider. Der eine drehte sich um Lachfalten,
der andere giftete: „Vielen Dank für die Belehrung, Doktor Sprenger!“
Spät am Abend warf er den leeren Whiskybecher mit voller Wucht an die
gegenüberliegende Wand und traf eins der unter Glas gerahmten
Bruno-Bruni-Poster.
„Verschwinde, Karin Berndorf! Verschwinde endlich!“, schrie er, bevor
er mit der Flasche im Arm auf der Couch einschlief.
Er kam mal wieder zu spät ins Büro, hatte erst abgewartet, bis das
Aspirin wirkte und Scherben aufgekehrt. Dabei betrauerte er das zerschnittene
Poster und legte es beinahe ehrfürchtig zu dem schon wieder angeschwollenen
Berg Altpapier in der Fensternische.
„Ihre Mutter hat schon angerufen“, empfing die Nixe ihn. Der
vorwurfsvolle Unterton in ihrer Stimme war kaum zu überhören. Es fehlte nur
noch, dass sie demonstrativ auf die Uhr geschaut hätte.
„Dann verbinden Sie mich“, bellte Chris nur und rauschte in sein
Zimmer.
Luise am frühen Morgen! Welche Katastrophe würde jetzt noch über ihn
hereinbrechen?
Aber sie verkündete nur, sie habe sich von ihrem Hans-Dieter getrennt.
Immer noch besser, als ihm den Pass aushändigen zu müssen, meinte sie. Chris
wusste nicht, ob er die spürbare Trauer seiner Mutter teilen oder froh und
dankbar sein sollte. Schließlich standen jetzt die Chancen nicht schlecht, dass
Hans-Dieter noch ein langes, erfülltes Leben vor sich hatte.
Um jeden Gedanken an Karin im Keim zu ersticken, stürzte er sich in
die Arbeit, las bis halb elf die Entwürfe zweier Klageschriften, versah sie mit
Randbemerkungen, die die Nixe ausarbeiten würde und brachte dann die
Körperverletzung hinter sich, die er Freitag abgesagt hatte.
Drei Anrufe liefen währenddessen auf: Stefan Eickboom, Lea und Anne.
Eickboom wollte wissen, welche Chancen bestünden, seinen Führerschein
früher als nach einem Jahr zurückzubekommen. Chris sagte zu, sich darum zu
kümmern, konnte ihm aber nicht viel Hoffnung machen. Pflichtschuldigst ließ er
am Ende des Gesprächs Grüße an den Senior ausrichten. Und Eickboom versprach
daran zu denken; der Vater sei gerade gestern von einem Kurzurlaub in Italien
zurückgekehrt.
Anne war einfach nur ungehalten, weil Chris sich eine ganze Woche
nicht gemeldet hatte. Dass man das Ganze genauso gut umgekehrt sehen konnte —
sie hatte sich schließlich bei ihm auch nicht gemeldet —, entging ihr
offensichtlich.
Was Lea wollte, war klar. „Geht es dir gut? Kommst du zurecht?“ Er
bejahte beide Fragen halbherzig, sich durchaus einer Lüge bewusst.
Er hatte gerade beschlossen, Feierabend zu machen und schon den
Autoschlüssel aus der Hosentasche gekramt, als die Nixe hereinkam und mit einem
leichten Stirnrunzeln Johannes Eickboom meldete.
Der sah ganz und gar nicht so aus, als wäre er gerade aus Italien
zurückgekehrt. Es sei denn, er hätte sich Venedig bei Regen angesehen oder so
ähnlich. Er war kalkweiß, und die Ringe unter den Augen waren noch tiefer als
letzte Woche bei Gericht. Ein ums andere Mal zupfte er nervös an seinem
Nadelstreifenanzug herum und schien nicht in der Lage, auch nur ein paar
Sekunden still zu sitzen.
Geistesabwesend übergab er Chris die Unterlagen für seine
Eigentumswohnung mit den Mängeln. Chris sah die Papiere flüchtig durch.
Kaufvertrag, Grundriss, Nebenabreden — es schien alles dabei zu sein. Er würde
sich intensiv damit befassen, wenn der Sachverständige sein Gutachten abgegeben
hatte.
Er legte die dünne Mappe beiseite und sah Eickboom erwartungsvoll an.
Der Alte war nicht nur gekommen, um ein paar Unterlagen abzugeben, mit denen
Chris im
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