Fehlschuss
wissen, dass er mit beiden Kontakt hatte. Es ist ein Indiz, aber
kein Beweis, dass er sie auch getötet hat. Trotzdem bin ich mir ziemlich
sicher, dass das unser Täter ist. — Ein Sadist, der ein ziemlich großes
Repertoire hat!“
„Er hatte unterschiedliche Motive“, sinnierte Chris. „Lautmann ist
wohl eher aus Versehen gestorben. Dagegen war der Tod von Tönnessen geplant.“
„So seh ich das auch. Trotzdem ist dass der beschissenste Fall den ich
je hatte, Chris!“ Die Hand von Susanne sauste auf die Tischplatte, und aus dem
übervollen Aschenbecher kullerten zwei Zigarettenstummel. Aber sie kümmerte
sich nicht darum. „Es gibt einfach keine logische Verknüpfung, verdammt! Wir
drehen uns immer nur im Kreis!“
„Womöglich nicht mehr lange“, bemerkte Chris leichthin und erntete
einen ungläubigen Blick, der mehr und mehr in Misstrauen umschlug.
„Wie meinst du das?“, kam es dann langgezogen.
„Ich hätte vielleicht eine Kleinigkeit!“
„Was?“
Er wedelte mit dem Umschlag. „Ich tausche, Susanne! Das hier gegen die
kompletten Ermittlungsakten Lautmann-Tönnessen!“
Zornig fuhr die Kommissarin von ihrem Stuhl hoch. „Du hast sie ja
nicht alle! Komplette Ermittlungsakten! Du weißt so gut wie ich, dass das nicht
geht! Wo kämen wir hin, wenn Hinz und Kunz … Was ist da drin?“
Chris legte eine Kunstpause ein. Zögerte, ließ sie im luftleeren Raum
hängen. Er schlug die Beine übereinander und schnippte ein Fädchen von seinem
Hemd.
„Eine wunderbare kleine Liste“, ließ er sich dann zu einer Erklärung
herab. „Eine Kundenliste, wenn du so willst. Wahrscheinlich keine komplette,
aber immerhin.“
Susanne zog tief die Luft ein. „Das ist nicht dein Ernst!“
„Mein voller! — Also, was ist?“
„Chris! Ich kann das nicht machen!“
„Sanne! Das hier und ich sage dir auch noch, dass sie die letzten drei
Wochen bei einer Freundin untergetaucht war. Zwei Tage vor ihrer Ermordung hat
sie ihre beiden Koffer gepackt und ist abgezogen. Ganz offensichtlich in
freudiger Erwartung auf eine Menge Geld, das jetzt fließen sollte. Na, komm
schon! Die Liste gegen ein paar blöde Kopien.“
Er war sich völlig im Klaren darüber, was er von der Polizistin
verlangte. Aber ihm war auch klar, dass er ohne diese Papierberge keinen
Schritt weiterkam. Keine Chance hatte, sein ungutes Gefühl aufzudröseln, das
seit Freitag an ihm nagte wie die Maus an der Käseecke. Er musste jeden
Schritt, jedes Detail und jede Aussage schwarz auf weiß haben, sich in Ruhe
darin vergraben, um einen bestimmten Punkt zu finden. Das, von dem er wusste,
dass es da war, aber keinen blassen Schimmer, wo, wann und weshalb.
Als er eine Stunde später nach Hause fuhr, sah er aus wie ein Kind,
dem man gerade eine Doppelportion Schokoladeneis spendiert hatte. Auf dem
Beifahrersitz neben ihm lag eine dicke Mappe. Von Susanne höchstpersönlich
kopiert.
Nach dieser Aktion hatten sie sich gemeinsam die Liste angeschaut. Es
waren an die dreißig Namen darauf: Hohe Beamte der Staatskanzlei in Düsseldorf,
Industrielle, Uni-Professoren, Kommunalpolitiker, Polizeibeamte im höheren
Dienst, Richter, Staatsanwälte — genau wie Tönnessen behauptet hatte.
Susanne stöhnte auf, als sie die Brisanz der beiden Blätter erkannte.
Und Chris beneidete sie nicht um ihren Job. Was sie auch tun würde — es war mit
Sicherheit falsch. In dieser Aufstellung war kaum jemand, zu dem man einfach
hingehen und sein Alibi überprüfen konnte. Keiner, den man mal eben so um eine
Speichelprobe bat, ohne sich Beschwerden bei höheren Dienststellen
einzuhandeln. Andererseits waren genau das die Wege, die die Kommissarin
einschlagen musste. Und er konnte überhaupt nicht einschätzen, wie viel
Rückendeckung sie von ihrem Vorgesetzten und der Staatsanwaltschaft bekam, und
ob sie das nötige Fingerspitzengefühl für die weiteren Ermittlungen aufbrachte.
Genau das ging auch ihr durch den Kopf, als sie über die Liste gebeugt
aufstöhnte und dann nur murmelte: „Ach, du große Kacke!“
Lea blieb bis Sonntagnachmittag. Widerstrebend gestand Chris sich ein,
dass es angenehm gewesen war, das Wochenende nicht allein verbringen zu müssen.
In ihrer Anwesenheit war es leichter gewesen, auf einen Anruf zu warten, der
nicht kam, leichter an „Weißt du eigentlich, dass du wunderschöne Lachfalten
hast?“ zu denken. Ein Satz, der Jahrhunderte zurücklag und doch so nah war und
so verdammt wehtat.
Um jeden weiteren Gedanken an Karin zu
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