Feind des Feindes
Straße zu seiner Wendemarke und tat es langsamer als je zuvor. Er hatte das Gefühl, eher zu trotten als zu laufen. Bei der Wendemarke sah er zur Uhr. Ja, er hatte wohl richtig gerechnet.
Dann kehrte er mit voller Geschwindigkeit an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit zurück - die Gesamtzeit würde seinen Zeitnehmern an den Botschaftstoren ohnehin nicht imponieren. Er fühlte sich plötzlich wie befreit.
Sein Körper hatte in den letzten Monaten viel einstecken müssen, und sie hatte bemerkt, daß er sogar ein wenig in die Breite gegangen war. Doch jetzt war der erste Akt zu Ende.
Mit seinem Obersten und seinem Kapitän zur See hielt er eine zwei Tage dauernde intensive Abschluß und Generalprobe ab. Wie nicht anders zu erwarten, hatten beide eine fröhliche, jungenhafte Begeisterung für die Zauberkünste des EDV- Systems entwickelt.
Er verwendete dabei die Daten über den Bomber SU-24 »Fencer«, wie er in der NATO-Sprache hieß, als Übungsbeispiele.
Die Angaben waren sowohl orange wie rot klassifiziert, und was mit Strom aus der Steckdose auf dem Bildschirm erschien, zeigte im großen und ganzen sämtliche bekannten gedruckten Daten über die Maschine sowie einige weitere Angaben, die sich aus Berichten an Stockholm herleiten ließen.
Als er auf das Reserveaggregat umschaltete, um alle tatsächlichen und theoretischen Verbindungen mit der Außenwelt zu kappen, konnte er sämtliche rot klassifizierten Angaben auf den Bildschirm holen, beispielsweise frühere Berichte über Beobachtungen der Maschine auf einem kleineren Flugplatz in der Nähe von Riga, wo sie ohne Nationalitätskennzeichen aufgetaucht war. Daraus hatte man in früheren Jahren den Schluß gezogen, daß etliche Exemplare des schwersten und mit der größten Feuerkraft ausgestatteten Bombers ins Baltikum verlegt worden waren. Dabei war bedacht worden, welche Konsequenzen dies für die schwedische Landesverteidigung haben konnte.
Die Angaben über die Entwicklungsvarianten B und C, die zu den relativ wenigen schwedischen Leckerbissen gerechnet werden konnten, waren selbstverständlich ebenfalls rot eingestuft. Typ B war vermutlich ein Teil der strategischen Luftflotte und mit taktischen Kernwaffen ausgerüstet, Typ C hatte ausschließlich Raketen an Bord, die für Seeziele im Ostseeraum gedacht waren.
Unter den jüngsten Berichten, die teils rot, teils orange klassifiziert waren, fanden sich Angaben über einen Rückzug der für Schweden recht bedrohlichen Waffe - bedrohlich, solange sie sich im Wehrbereich von Leningrad oder dem baltischen Wehrbereich von Riga befand. Die Schlußfolgerungen liefen darauf hinaus, daß dies sowohl etwas mit Glasnost als auch mit Einsparungen zu tun haben konnte.
Wenn man unter »Einsparungen« nachsah, tauchten auf dem Bildschirm eine Reihe von Zahlen verschiedener Berichte auf, und plötzlich wurde ein Muster deutlich. Die Russen waren dabei, ihre Militärausgaben in dem schwedischen Interessengebiet zu beschneiden. Militärische Perestroika also.
Das EDV-System befaßte sich kreuz und quer mit Angaben über See-, Luft und Bodenstreitkräfte, und es war so einfach, die verschiedenen Klassifikationen auf den Bildschirm zu holen, daß die beiden älteren Männer, die geglaubt hatten, nie im Leben dieses Teufelszeug bewältigen zu können, jetzt an Erfindungsgabe und Fingerfertigkeit fast miteinander wetteiferten.
Damit war Carls offizieller Auftrag erledigt.
Hinterher gab es in der Stadt ein improvisiertes Abschlußfest. Es fand in einem schönen Haus aus dem neunzehnten Jahrhundert statt, in dem der Kapitän zur See eine private Wohnung hatte. Obwohl der Botschafter sich schon vorgenommen hatte, ihm die großartige Residenz wegzunehmen und sie zu einer schwedischen Kultureinrichtung zu machen.
Carl hatte wieder das Gefühl, als wäre er dabei, sich zu verabschieden, und trank sehr vorsichtig.
Dem grauen Warenhaus Tsentralnij Umwermag in der Petrowka-Straße gegenüber liegen einige Nebenausgänge des Bolschoi unter einem von schmalen Säulen getragenen Vordach.
Wer das Theater durch einen dieser Nebenausgänge verläßt, braucht genau fünfzehn Sekunden, um die Passage zum Warenhaus auf der anderen Straßenseite zu erreichen, und anschließend weniger als vierzig Sekunden, um auf der anderen Seite auf die Neglinnajastraße hinauszutreten. Von dort ist es nur noch ein Straßenblock zu der großen Hauptstraße Prospekt Marksa.
Carl stand an der Ecke von Neglinnaja und Prospekt Marksa und beobachtete
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