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Feind des Feindes

Feind des Feindes

Titel: Feind des Feindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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den Verkehr. Sie würde allerdings aus der anderen Richtung kommen.
    Niemand überquerte die durchgezogene Linie in der Straßenmitte. Möglicherweise war das ein Verkehrsdelikt. Man mußte also gleich zu Anfang rechts abbiegen.
    Glasunows »Raymonda« war einer der ewigen Eckpfeiler des Bolschoi-Repertoires - die ursprüngliche Inszenierung von 1898 läuft noch heute.
    Es hatte einiger zusätzlicher Anstrengungen bedurft, um für die Vorstellung des Abends Karten zu bekommen, da die Titelrolle von Nina Ananschwih und die zweite Hauptrolle, Jean de Brienne, von dem großen Star Andres Leipa getanzt werden wurde.
    Die Vorstellung dauerte mehrere Stunden. Und »Raymonda«
    hatte drei Akte.
    Es hatte zu regnen begonnen. Carl ging die Straße gegenüber dem Warenhaus entlang und sah mit wachsender Besorgnis, wie sich die Parkplätze allmählich füllten.
    Er begab sich unter das Dach der Passage, als er Irma ankommen sah. Sie bekam den vorletzten Parkplatz auf seiner Straßenseite. Es war perfekt und hätte nicht besser sein können. Und überdies hatten sie am Abend zwei Pausen zur Verfügung. Sie fuhr zusammen, als sie ihn entdeckte, und er erklärte schnell, er habe nicht im Gedränge und Gewimmel des Theaters auf sie warten wollen, weil sie dort mehr Mühe gehabt hätten, sich zu finden.
    Es kam ihm vor, als sähe sie heute abend ängstlicher aus als sonst, tat das dann aber als Einbildung ab. Dafür war sie so schön wie schon lange nicht mehr. Sie hatte sich viel Mühe gegeben, obwohl sie immer noch flache Schuhe trug, um ihre Körpergröße zu kaschieren. Vielleicht besaß sie auch nur flache Schuhe. Es hätte ihn jedoch nicht gestört, wenn sie etwas größer gewesen wäre als er selbst.
    Im Theater roch es nach Mottenpulver. Sie saßen hoch oben an der Seite des dritten Rangs und konnten fast senkrecht auf die gewaltige Bühne hinunterblicken. Weit im Hintergrund sahen sie die schrecklichen Kulissen, die vor allem Leipa genügend Auslauf geben sollten, wenn er im dritten Akt mit seinen äquilibristischen Übungen begann.
    Der erste Akt war unsäglich langweilig, höfisch und entsprach dem französischen Geschmack des neunzehnten Jahrhunderts. Von Zeit zu Zeit flackerte unten im Parkett ein kleiner blauer Kamerablitz auf; einige Sowjetbürger wollten eine Erinnerung fürs Leben mit nach Hause nehmen.
    Sie dürften auf ihre Fotos kaum mehr bekommen haben als ein paar Hinterköpfe und eine nebelhaft wirkende Bühne ohne Details. Carl spürte zu seinem Erstaunen, daß er dabei war einzuschlafen.
    In der ersten Pause drängten sie sich eine Treppe hinunter und tranken eine Limonade, nach der sie wie gewohnt lange hatten anstehen müssen.
    Als die Glocken läuteten und sie wieder die Treppe hinaufgingen, erklärte er, ihm sei plötzlich eingefallen, daß in der Botschaft ein Telegramm liege, das er beantworten müsse. Er lieh sich ihre Autoschlüssel, küßte sie auf die Wange und wartete, bis sie von dem Publikum des dritten Rangs aufgesogen wurde. Es war alles sehr schnell gegangen, und er hatte bei ihr nicht einmal Verwunderung oder Besorgnis registriert. Er hatte ihr versprochen, bis zum dritten Akt wieder da zu sein. Er hatte eine Stunde und zehn Minuten Zeit.
    Der Rückwartsgang im Wagen der Familie Dserschinski ließ sich nur schwer einlegen, und als er anschließend in den zweiten Vorwärtsgang schaltete, kreischte das Getriebe besorgniserregend. Er fuhr sehr ruhig zur Ecke von Neglinnaja und Prospekt Marksa. Es herrschte kaum Verkehr. Er überlegte einen Augenblick, ob er verbotenerweise die Mittellinie überfahren und gleich nach links fahren sollte. Er besann sich aber eines besseren, bog nach rechts ab und steigerte die Geschwindigkeit, als er sich auf dem Prospekt Marksa befand. Das wird also zunächst so etwas wie Sightseeing, lächelte er vor sich hin, als er durch die Seitenscheibe die rosafarbene Fassade des Bolschoi-Theaters sah.
    In einsamer Majestät fuhr er um den Platz mit dem schwierigen Namen herum, »Platz zur Erinnerung des 50jährigen Jubiläums der Revolution«, und warf einen Blick auf die große rote Sowjetfahne, die wie gewohnt beleuchtet war und trotz des Regens wie gewohnt fast perfekt flatterte. Er bog dann nach links ab und kam an eine rote Verkehrsampel, bei der es natürlich endlos lange dauerte, bis sie wieder auf Grün geschaltet wurde. Ein Wolga mit Gardinen vor der Heckscheibe und ein gelbes Taxi schlossen hinter ihm auf. Er kam jedoch zu dem Schluß, daß sie nicht so dumm

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