Feind des Feindes
schließlich das Schloß sehen.
Das Treppenhaus war menschenleer. Die Laute, die zu hören waren, schienen von Fernsehgeräten oder Radios zu stammen. Carl hatte weiche, perforierte Gummisohlen unter seinen Abendschuhen. Er vergewisserte sich, daß die Schnürsenkel fest verknotet waren und daß nichts an seiner Kleidung vorstand oder ihn behindern konnte. Er streifte sich ein paar weiche Handschuhe aus hellem Leder über und betrachtete eine Zeitlang das Schloß. Falls es das einzige war, würde er höchstens zehn Sekunden brauchen. Falls die Tür innen eine Sicherheitskette hatte, mußte er sie wieder schließen, anklopfen und etwas auf russisch sagen.
Das Schloß ging schneller auf, als er berechnet hatte. Es war überdies das einzige. Aus der Wohnung ertönten Stimmen und Geräusche von einem Fernsehgerät. Carl hielt die Tür ein paar Zentimeter auf und lauschte. Im Flur brannte kein Licht: Er mußte jetzt geradeaus weitergehen. Er schob mit einer schnellen und entschlossenen Bewegung die Tür auf, damit sie nicht quietschte, und ließ sie fast ins Schloß fallen. Dann blieb er reglos stehen und lauschte.
Die Unterhaltung wurde auf englisch geführt. Ein Mann und eine Frau sprachen miteinander. Carl zog sein Werkzeug aus der Tasche, versteckte die Ahle in der rechten Hand und steckte die übrigen Dinge wieder in die Jackentasche.
Er blieb eine Weile reglos stehen. Obwohl er kaum einen Anlaß dazu hatte, ruhte er erneut im Augenblick und staunte über das völlige Fehlen von Nervosität. Er hatte das Gefühl, alles sei schon vorüber.
Dann ging er ziemlich schnell durch den Korridor, vorbei an der leeren dunklen Küche, und betrat das hell erleuchtete Wohnzimmer. Er setzte ein fröhliches Lächeln auf.
»Wie schön, daß ich Sie endlich erreiche, Herr Sandström.
Ich heiße Hamilton und bin von der schwedischen Botschaft«, sagte er auf schwedisch.
Und bevor der verblüffte Landesverräter, der den jüngsten Fotos ähnlich sah, sein Glas hatte abstellen können, erklärte Carl dem Mädchen auf englisch, er komme nur von der schwedischen Botschaft. Dann fuhr er schnell auf schwedisch fort, er wolle sich nur kurz mit Herrn Sandström unterhalten. Er streckte lächelnd die Hand aus, und als der überrumpelte Mann aufstand, als wollte er die Hand ergreifen und ihn begrüßen, schlug Carl ihn bewußtlos.
Er ging um den Tisch mit den Gläsern herum, trat vor das Mädchen und entriß ihm die Handtasche. Sie enthielt keine schweren Waffen.
Sie saß vollkommen still, ohne sich zu rühren. Carl ging zu dem bewußtlosen Landesverräter zurück und drehte ihn mit dem Fuß um, so daß der Mann platt auf dem Bauch lag. Dann betrachtete Carl die Szene.
Der Raum wirkte wie das vollkommen normale Wohnzimmer eines etwas bessergestellten Russen. Carl sah eine westliche Stereoanlage und ein finnisches Fernsehgerät. Die Möbel sahen neu, aber klobig aus. Die ganze Wohnung wirkte sauber und aufgeräumt.
Er betrachtete das Mädchen. Sie schien in den Dreißigern oder vielleicht etwas jünger zu sein. Russinnen haben die Gabe, älter auszusehen, als sie sind. Die junge Frau war recht elegant gekleidet, jedoch ohne jede Spur von Vulgarität. Sie sah blond und finnisch aus.
»Wer sind Sie?« fragte er kurz auf russisch.
Sie schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Sie war offenbar vor Schreck wie gelähmt.
»Ich muß erfahren, wer Sie sind«, sagte Carl geschäftsmäßig, bekam aber immer noch keine Antwort.
Da bückte er sich, legte die linke Hand auf den Hinterkopf des Verräters und preßte den Kopf nach vorn. Mit der rechten Hand stieß Carl die Ahle direkt in die kleine Höhlung über dem großen Rückenwirbel am Hals und zog sie dann ein paarmal hin und her. Er bemerkte zunächst keine Reaktion, aber dann zappelte ein Bein des Verräters kaum merklich.
Carl erhob sich und betrachtete wieder die Frau. Sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Es war schwer auszumachen, ob ihr aufgegangen war, daß der Mann, mit dem sie vor kurzem noch zusammengesessen und gesprochen hatte, jetzt tot war. Bei einer normalen Obduktion würde man in vielen Routinefällen die Todesursache übersehen, nämlich daß sozusagen der Hauptschalter mit einem spitzen scharfen Gegenstand durchschnitten worden war, aber so, wie die Dinge jetzt lagen, würde es unter gar keinen Umständen zu einer normalen Obduktion kommen.
»Ich habe es eilig und muß es wissen«, sagte Carl. Er setzte sich auf die Armlehne des Sofas, so daß die Frau jetzt
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