Feind des Feindes
in seiner Reichweite war. Sie saß mitten auf dem Sofa, weniger als einen Meter entfernt, und preßte die Knie zusammen. Sie antwortete noch immer nicht.
»Hören Sie«, sagte Carl gehetzt, da er spürte, wie ihm die Zeit davonlief, »ich bin Offizier beim schwedischen Nachrichtendienst. Dieser Mann hier ist ein Verräter, der bei uns zu Hause zum Tode verurteilt worden ist. Wenn Sie eine Nachbarin oder Freundin sind, werde ich auch Sie töten müssen. Aber wenn Sie eine von uns sind, eine Kollegin, kann davon keine Rede sein. Nun?«
Sie schien intensiv über das nachzudenken, was Carl gesagt hatte. Nur wenn sie selbst beim Nachrichtendienst war, würde sie die Logik dessen erkennen, was Carl soeben gesagt hatte.
»Glavnoje raswedowatelnoje uprawlemje«, flüsterte sie heiser. Sie mußte sich räuspern und blickte starr zu Boden. Nur wenige Sowjetbürger wären in der Lage gewesen zu sagen, was die Buchstaben GRU bedeuten.
»Rang und Abteilung?« fragte Carl schnell und sah auf die Uhr.
»Das darf ich nicht sagen.«
»Das müssen Sie sagen, denn sonst weiß ich nicht, ob Sie die Wahrheit sagen. Ihr Name ist mir egal, aber Rang und Abteilung muß ich erfahren.«
»Unterleutnant, erstes Direktorat, zweite Direktion, Abteilung für skandinavische Angelegenheiten«, erwiderte sie leise und schloß die Augen, als schämte sie sich.
Carl schnappte nach Luft. Damit war die Sache klar.
»Wir sind Kollegen«, stellte er fest. »Dies ist kein gegen die Sowjetunion gerichteter feindseliger Akt. Wir betrachten das hier als unser nationales Recht. Aber ich muß mich entfernen können, ohne daß in der nächsten halben Stunde die Jagd auf mich beginnt. Verstehen Sie das?«
Sie lächelte plötzlich ironisch und hatte etwas Gesichtsfarbe und Hoffnung zurückgewonnen.
»Ja, selbstverständlich, aber wie soll ich Ihnen das garantieren«, murmelte sie.
»Ich bitte Sie folglich höflich um Entschuldigung für die Unannehmlichkeiten, die ich Ihnen bereite. Bitte richten Sie Ihren direkten Vorgesetzten meinen respektvollen Gruß und mein Bedauern aus«, sagte Carl schnell und versetzte ihr einen knappen Schlag in den Nacken, als er den Satz beendete.
Sie fiel lautlos seitlich aufs Sofa. Er beugte sich vor, schob eins ihrer Augenlider hoch und betrachtete das Auge. Sie war bewußtlos, er hatte sie nicht getötet. Es war kein Halswirbel gebrochen. Sie würde bald wieder zu sich kommen. Er hob sie auf den Fußboden und legte sie kopfüber seitlich hin und knöpfte ihr die Kleidung auf, um ihre Atmung zu erleichtern. Sie atmete gleichmäßig, und der Puls schien normal zu sein.
Er stand auf, ging zu der Leiche und zog einen kleinen Fotoapparat aus der Jackentasche. Erst machte er ein paar Nahaufnahmen von Kopf und Nacken, so daß man die darin steckende Ahle sehen konnte. Anschließend zog er sie zur Hälfte heraus, machte ein paar neue Fotos, drehte dann die Leiche um und zog die Ahle ganz heraus. Er wischte einen Blutstropfen in der millimetergroßen Wunde ab, die so aussah, als würde sie sich bald schließen.
Er machte noch ein paar weitere Aufnahmen, Porträtbilder aus nächster Nähe mit offenen Augen sowie ein paar Ganzaufnahmen. Schließlich steckte er die Ahle, die er zuvor abgewischt hatte, in das Kunststoffutteral, das er auf den Couchtisch legte. Dann verließ er den Raum, durchquerte den Flur und zog die Tür leise hinter sich zu.
Im dritten Akt kamen endlich die eher äquilibristischen Passagen, die Andres Leipa zum ersten Mal während der Vorstellung Gelegenheit boten, seine Virtuosität auszuspielen, was das bis dahin etwas mürrische Publikum auftauen ließ.
Jetzt wurde es überzeugender. Dies war wirklich russisches Ballett auf der berühmtesten Bühne der Welt. Und Carl war mit allen seinen Sinnen dabei.
Er war äußerlich vollkommen ruhig, fühlte sich aber irgendwie schizophren. Während die eine Hirnhälfte sich unbekümmert der Vorstellung zuwandte, war die zweite mit anderen Dingen beschäftigt.
Der weibliche Unterleutnant mit dem finnischen Aussehen war vermutlich so etwas wie Babysitter für Sandström gewesen. Nein, wenn sie im ersten Direktorat arbeitete, war sie Analytikerin. Hätte sie fünftes Direktorat geantwortet, wäre sie vermutlich Operateurin und gefährlich gewesen. Dann hätte sie irgendeine Schutzfunktion haben können.
Es war natürlich absolut unzweifelhaft, daß sie GRU-Offizier war. Kein gewöhnlicher Sowjetbürger hätte auf die Frage nach der Funktion beim militärischen
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