Feind in Sicht
Vater mein Bruder.« Er blickte zur Seite und fuhr schnell fort: »Und du hast in Penzance gewohnt?«
»Ja, Sir. Meine Mutter arbeitete manchmal als Haushälterin beim Squire. Als sie starb, bin ich nach Falmouth gewandert.«
Bolitho studierte nachdenklich das Gesicht des Jungen. Zwanzig Meilen weit zu Fuß, allein und ohne zu wissen, was in der fremden Stadt auf ihn wartete.
Plötzlich sagte der Junge: »Tante Nancy war sehr großzügig zu mir, Sir. Sie hat gut für mich gesorgt.« Er senkte den Blick. »Als sie alles nachgeprüft hatten.«
»Ja, das war von ihr zu erwarten.« Plötzlich sah Bolitho seine Schwester deutlich vor sich, wie sie ihn selbst gepflegt und bemuttert hatte, als er nach seiner Rückkehr aus der Südsee fast am Fieber gestorben wäre. Sie wird für den Jungen besser gesorgt haben als jeder andere, dachte er.
Merkwürdig, sich vorzustellen, daß der Junge all diese Jahre knapp zwanzig Meilen von Falmouth und Bolithos Haus entfernt gelebt hatte, das eines Tages sein Eigentum geworden wäre, wenn das Schicksal nicht diese grausame Wendung genommen hätte.
Pascoe sagte leise: »Als ich in Falmouth war, Sir, bin ich in die Kirche gegangen und sah dort die Gedenkplatte für meinen Vater. Neben all den anderen…« Er schluckte schwer. »Das hat mir gefallen, Sir.«
Es klopfte, und Midshipman Gascoigne trat behutsam ein. Gascoigne war siebzehn und der dienstälteste Fähnrich auf dem Schiff. Als Inhaber des begehrten Postens des Signalfähnrichs war er als nächster an der Reihe, zum diensttuenden Leutnant ernannt zu werden. Er war auch der einzige, der schon vorher auf einem Kriegsschiff auf See gedient hatte.
Förmlich meldete er: »Empfehlung von Mr. Inch, Sir, und das Boot mit dem Kommodore an Bord legt von der
Indomitable
ab.«
Sein Blick schweifte zu dem neuen Midshipman hinüber, aber er zuckte mit keiner Wimper.
Bolitho stand auf und griff nach seinem Säbel. »Gut, ich komme.« Schärfer fügte er hinzu: »Mr. Gascoigne, ich unterstelle Mr. Pascoe Ihrer Obhut. Sorgen Sie dafür, daß er einer Station zugewi esen wi rd, und überwachen Sie sorgfältig seine Fortschritte.«
»Sir?« Gascoignes Gesicht war undurchdringlich.
Bolitho haßte Begünstigungen jeder Art und verabscheute alle, die Beziehungen aktiv oder passiv nutzten, um dadurch Beförderung oder eine besondere Behandlung zu erreichen. Doch das schien im Augenblick ohne Belang zu sein. Dieser arme, beklagenswerte Junge, der für die Chance, sich zu bewähren, dankbar und völlig unschuldig an seinem Schicksal war, das ihm einen Vater und sogar seinen richtigen Namen vorenthalten hatte, befand sich jetzt auf seinem Schiff; und laut Roxbys Brief gab es auch keinen anderen Platz auf der Welt, wohin er gehen konnte.
Ruhig sagte er: »Mr. Pascoe ist mein Neffe.«
Als er dem Jungen wieder in die Augen sah, wußte er, daß er richtig gehandelt hatte. Unfähig, die Qual in den dunklen Augen auch nur einen Augenblick länger zu ertragen, fügte er schroff hinzu: »Und nun fort mit Ihnen! Wir haben mehr als genug zu tun.« Wenige Minuten später, als Bolitho bei der Schanzpforte stand, um den Kommodore zu empfangen, überraschte er sich bei dem Gedanken, was die Ankunft des Jungen noch alles bedeuten mochte. Flüchtig streifte er seine Offiziere mit einem Blick und fragte sich, wieviel sie wußten und was sie von dem Makel in der Familiengeschichte ihres Kommandanten hielten.
Ihre Gesichter drückten die unterschiedlichsten Empfindungen aus: gespannte Erwartung wegen der bevorstehenden weiten Fahrt, Besorgnis bei dem Gedanken, einem geliebten Menschen noch ferner zu sein, vielleicht auch Erleichterung, daß ihnen die Langeweile der Blockade erspart blieb; noch erkannten sie nicht die Ungeheuerlichkeit ihres Auftrags. Die plötzliche Änderung der Befehle hatte den Horror über die Hinrichtungen, den wilden Zusammenstoß mit der Fregatte aus ihrem Gedächtnis verdrängt. Selbst die Erinnerung an die Kameraden, die bei dem einseitigen Kampf ums Leben gekommen waren und ein Seemannsgrab gefunden hatten, fast ehe noch ihr Blut von den Planken gescheuert war, schien verblaßt zu sein. Das war auch ganz gut so, dachte Bolitho grimmig.
Als Pelham-Martins Hut an der Schanzpforte auftauchte, als die Trillerpfeifen schrillten und die Trommeln und Querflöten der Marinesoldaten
Heart of Oak
anstimmten, schob Bolitho seine persönlichen Hoffnungen und Befürchtungen zunächst beiseite.
Er trat vor, nahm seinen Hut ab, erkannte an dem nach
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