Feind
Verzweiflung. Wer nicht fliehen konnte, der kämpfte bis
zum Äußersten, was bedeutete, dass die Verluste in den eigenen Reihen erheblich
anstiegen. Dennoch bedauerte Lióla, dass man die Aufsässigen nicht vollständig
zermalmt hatte. Aber wer bin ich, tadelte sie sich, den Ratschluss der Schatten zu bewerten? Diese Nacht hatte
einen großen Sieg gesehen, und Lióla hatte ihren Anteil daran gehabt.
Die finstere Wesenheit, die sich auf die Stadt gelegt hatte, war
inzwischen in der Dunkelheit der Nacht aufgegangen. Die Osadroi bereiteten sich
auf ihren Einzug vor. Zwei Tausendschaften standen Spalier zwischen dem Palast
und der Festung, in der schon nach den besten Räumlichkeiten gesucht wurde,
damit sie den Tag geschützt vor den Strahlen der Sonne verbringen konnten.
Liólas Aufgabe bestand darin, für einen angemessenen Empfang der Schattenherren
zu sorgen.
Erwartungsfroh ließ sie sich von einem Gardisten die Treppe
emporführen. Sie ging langsam, schon allein, damit Brünetta Schritt hielt.
Ghoule bewegten sich beinahe wie Schlafwandler, wenn man sie nicht mit
Peitschen antrieb. Leider war Brünettas Kleid keine Zierde mehr. Zu dem Riss
über dem Bauch war nun auch der Schmutz von Schlamm und Blut gekommen, der den
Stoff bis zu den Knien tränkte. Ein Schlachtfeld war eben kein Ballsaal.
Auf der Treppe hatte man die Leichen weggeschafft, nur ihr Blut war
auf den Stufen geblieben. Guardaja war anders als der Palast, in dem die
Osadroi warteten. Hier gab es nur grobe Quader, keinen Marmor. Bei den rauen
Oberflächen musste man genau hinsehen, um zu erkennen, wo ein Schwerthieb oder
ein Lanzenstoß eine Narbe hinterlassen hatte. Alle Krieger, die an ihnen
vorbeihasteten, trugen das ondrische Schwarz. Viele waren verwundet und alle
verdreckt, aber das störte Lióla nicht, war es doch Zeugnis einer Hingabe an
die Osadroi, die keine Härte scheute. Dies war eine Nacht, in der man sich über
die Schwäche sterblichen Fleisches erhob, indem man ihr mit Geringschätzung
begegnete und das Herz für die Macht der Schatten öffnete.
Lióla fürchtete schon, in einer dämonischen Enklave gelandet zu
sein, wo die Treppen niemals endeten, als sie endlich das flache Dach
erreichten. Der Wind hatte aufgefrischt und zog nun kräftig an ihren Haaren.
Vielleicht lag es an den Feuern, die ringsum brannten. Die nordwärts ausgerichteten
Kastelle und Wehrtürme standen in Flammen. Gen Ondrien wurde kein Schutz mehr
benötigt.
Die Berge versperrten die Sicht zum östlichen Horizont, aber an der
Strecke, die die Sterne auf ihrer Wanderung zurückgelegt hatten, erkannte
Lióla, dass die Morgendämmerung noch drei Stunden entfernt war. Genug Zeit.
Einige Gardisten waren damit beschäftigt, die verbrannten Banner
Milirs von den Masten zu holen und stattdessen ondrische aufzuziehen. In der
Nacht waren die schwarzen Flaggen nur dadurch zu erkennen, dass sie die Sterne
verdeckten.
Ihr Führer brachte sie zu der edelsten Gruppe Gefangener, die Lióla
jemals auf die Ankunft der Schattenherren hatte vorbereiten dürfen. Dies hier
waren diejenigen Anführer des feindlichen Heeres, die genug Feigheit und Ungeschick
bewiesen hatten, um sich gefangen nehmen zu lassen. Sogar Prinz Varrior war
darunter, unverkennbar durch den goldenen Harnisch, auf dem sich zwei steigende
Rappen gegenüberstanden.
»Ich werde Euch nicht nach Euren Namen fragen«, kündigte Lióla an, »denn
sie sind bedeutungslos geworden. Die Osadroi werden entscheiden, wie mit Euren
Lehen verfahren wird, wer von Euch lebt und wer stirbt, wem die unverdiente
Ehre zuteilwird, in den Dienst der Schatten zu treten, und wer dem Vergnügen
der Mächtigen als Sklave zu dienen hat.« Oder Schlimmeres, dachte sie mit einem Seitenblick auf den Prinzen.
Die zehn Männer wirkten abgekämpft, ihre Rüstungen waren vom Ruß
geschwärzt, zerbeult, an manchen Stellen gebrochen, und einige trugen Verbände
aus Stofffetzen. Jeder Einzelne von ihnen hätte Lióla augenblicklich über die
Zinnen in die Tiefe geschleudert, wären die Gardisten nicht gewesen, das konnte
sie in ihren Augen lesen. Das hier waren keine eingeschüchterten Untertanen. Es
waren Edle und Krieger dazu, gewohnt, ihren Willen durchzusetzen.
Doch diese Phase ihres Lebens war nun vorbei, auch wenn sie es noch
nicht begriffen hatten.
Lióla winkte eine Standarte mit der schwarzen Rose Ondriens heran
und ließ ein Kohlebecken davor aufstellen, damit das Wappen gut angeleuchtet
wurde. »Ihr habt die Wahl. Küsst das
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