Feinde der Krone
hatte, wusste aber keine Lösung. Keinesfalls hielt er Francis Wray für den Täter, zumal es zur Ausführung der Tat nötig gewesen war, sich Maude Lamont auf die Brust zu knien und ihr gewaltsam Eiweiß und Käseleinen in die Kehle zu pressen und so lange festzuhalten, bis sie erstickt war. Sie dürfte kaum stillgehalten, sondern keuchend und würgend um ihr Leben gekämpft haben.
Tellman sah aufmerksam zu ihm hin. »Wir müssen den Täter finden«, sagte er entschlossen. »Mister Wetrons Überzeugung nach ist es der Mann aus Teddington. Er sagt, dass wir die Beweise finden, wenn wir nur gründlich danach suchen. Er hat durchblicken lassen, dass es am besten wäre, ein paar Männer nach Teddington zu schicken und –«
»Kommt gar nicht in Frage!«, fiel ihm Pitt schneidend ins Wort. »Wenn jemand dort hinfährt, dann ich.«
»Das sollten Sie aber besser gleich heute tun«, sagte Tellman. »Sonst könnte Wetron –«
»Diesen Fall bearbeitet der Sicherheitsdienst«, unterbrach ihn Pitt erneut.
Tellman erstarrte mitten in der Bewegung. Der Widerwille in seinen Augen und seinem angespannten Gesicht war unübersehbar. »Viel haben wir ja bisher nicht aufzuweisen, oder?«
Pitt merkte, dass er errötete. Die Kritik war berechtigt, dennoch schmerzte sie ihn und wurde in ihrer Wirkung dadurch verschlimmert, dass er sich im Sicherheitsdienst nicht zu Hause fühlte und ein anderer auf seinem Stuhl in der Bow Street saß. Er wagte nicht an einen möglichen Fehlschlag zu denken, doch war dieser in seinem Unterbewusstsein stets gegenwärtig, von einem Augenblick auf den anderen bereit, ans Tageslicht zu kommen. Immer, wenn er ermattet und ohne klare Vorstellung, wie er weitersuchen sollte, in seinem leeren Haus saß, schien sich vor seinen Füßen ein schwarzer Abgrund zu öffnen, in den er jederzeit stürzen konnte.
»Ich fahre hin«, sagte er knapp. »Sie sollten festzustellen versuchen, auf welche Weise sie das Material für ihre Erpressungen zusammengetragen hat. Hat sie sich dabei mit Zuhören und Zusehen begnügt, oder hat sie richtig recherchiert? Das zu wissen, könnte nützlich sein.«
Tellman schien unentschlossen. Auf seinen Zügen lagen widerstreitende Empfindungen. Es mochte sich dabei um Zorn und Schuldbewusstsein handeln, vielleicht auch um Bedauern, weil er laut gesagt hatte, was er dachte. »Bis morgen dann«, murmelte er, wandte sich um und ging.
Im Zug überlegte Pitt, auf welche Weise er Näheres über Francis Wray erfahren konnte. Immer wieder drängte sich ihm nicht nur die Erinnerung an das Werbefaltblatt für Maude Lamont auf, das er auf dem Tischchen gesehen hatte, sondern auch daran, mit welcher Empörung Wray auf seine Erwähnung spiritistischer Medien reagiert hatte. Pitt hielt es für ausgeschlossen, dass der Tod seiner Frau den alten Herrn so sehr aufgewühlt hatte, dass er aus dem seelischen Gleichgewicht geraten war und in seinem ersten Kummer entgegen den Grundsätzen seines ein Leben lang befolgten Glaubens ein Medium aufgesucht hatte. Sofern es sich aber doch so verhielt – Pitt hatte durchaus schon von solchen Fällen gehört –, hatte er womöglich die Schuld dafür bei dem Medium gesucht und nur die Möglichkeit gesehen, den Abscheu vor sich selbst, den er deswegen empfand, loszuwerden, indem er sie beseitigte. Je mehr sich dieser Gedanke in Pitts Kopf festsetzte,
desto nachdrücklicher bemühte er sich, dagegen anzukämpfen.
In Teddington stieg er aus, ging aber diesmal nicht gleich zur Udney Road, sondern zur High Street. Zwar war es ihm selbst nicht recht, die Dorfbewohner über Francis Wray auszufragen, aber ihm blieb keine Wahl. Wenn er es nicht tat, würde Wetron Männer schicken, die mit ihrem unbeholfenen Vorgehen noch mehr Kummer verursachten.
Er musste sich eines Vorwandes bedienen. Schließlich konnte er nicht gut geradeheraus fragen: »Glauben Sie, dass Mister Wray den Verstand verloren hat?« So legte er sich Fragen zurecht, in denen es um verlorene Gegenstände ging, Gedächtnisausfälle, die Sorge anderer Menschen, dass es Wray nicht gut ging. Das in Worte zu fassen fiel ihm nicht so schwer, wie er gefürchtet hatte, dennoch gehörte es zu seinen schlimmsten Erfahrungen, dass er den Kummer des alten Mannes auf diese Weise ausschlachtete. Nicht den Menschen gegenüber, mit denen er sprach, empfand er das, wohl aber vor sich selbst.
Aus allen Antworten ergab sich mehr oder weniger dasselbe Bild: Francis Wray war geachtet und wurde bewundert,
Weitere Kostenlose Bücher