Feinde der Krone
wollen, bevor sie auf ihn schießen.«
»Er würde sie zur Übergabe auffordern«, fügte sie hinzu. »Für die Arbeit im Sicherheitsdienst muss man verschlagen sein, alle Kniffe beherrschen, stets im Hintergrund wirken, sich nie in der Öffentlichkeit zeigen. Vergiss das nicht.«
Trotz des Sonnenscheins überlief Pitt ein kalter Schauder. »Ich vermute, dass General Kingsley von Maude Lamont erpresst wurde. Jedenfalls sieht es so aus.«
»Ging es um Geld?« Sie war überrascht.
»Möglicherweise. Aber ich glaube, dass dahinter eher die Absicht stand, Aubrey Serracold in den Zeitungen anzugreifen. Man hat auf seine mangelnde Erfahrung gebaut und damit gerechnet, dass er vermutlich ungeschickt auf einen solchen Angriff reagieren und sich damit weiteren Schaden zufügen würde.«
»Ach je.« Sie schüttelte leicht den Kopf.
»Einer von dreien hat das Medium umgebracht«, fuhr er fort. »Rose Serracold, General Kingsley oder der Mann, den sie mit einer Kartusche in ihrem Tagebuch eingetragen hat, einer kleinen Zeichnung, die ungefähr so aussieht wie ein umgedrehtes f mit einem Halbkreis darüber.«
»Wie sonderbar. Und hast du eine Vorstellung, wer das sein könnte?«
»Oberinspektor Wetron ist überzeugt, dass es sich um einen älteren Theologiedozenten handelt, der in Teddington lebt.«
Ihre Augen weiteten sich. »Wieso das? Für einen Gottesmann scheint mir das ziemlich pervers zu sein. Oder wollte er die Frau etwa als Betrügerin entlarven?«
»Ich weiß nicht. Aber ich …« Er zögerte, unsicher, wie er seine Empfindungen und sein Handeln erklären sollte. »Ich halte ihn nicht für den Täter, kann aber nichts garantieren. Er hat vor einiger Zeit seine Frau verloren und vergeht vor Gram. Er hat eine starke Aversion gegen spiritistische Medien, weil sie seiner Überzeugung nach das Böse verkörpern und Gottes Geboten zuwider handeln.«
»Und du fürchtest nun, dieser Mann könnte unter dem Einfluss seines Grams den Verstand verloren und es sich zur Aufgabe gemacht haben, ihr auf alle Zeiten das Handwerk zu legen?«, fragte sie. »Ach, mein lieber Thomas, du hast für deinen Beruf ein viel zu weiches Herz. Bisweilen begehen auch sehr gute Menschen entsetzliche Fehler und bringen unendliches Elend über die Welt, weil sie damit Gottes Werk zu tun glauben. Weißt du, nicht alle Inquisitoren Spaniens waren grausam oder engstirnig. Manche waren fest überzeugt, dass sie die Seelen der Menschen retteten, die in ihre Hand gegeben waren. Sie wären höchst erstaunt, wenn sie wüssten, wie wir sie heute sehen.« Sie schüttelte den Kopf. »Bisweilen unterscheidet sich unsere Wahrnehmung der Welt so sehr von der anderer Menschen, dass man schwören könnte, wir sprechen nicht von ein und derselben Sache. Hast du nie erlebt, dass ein halbes Dutzend Menschen, die Zeugen eines Vorfalls waren oder eine Person beschreiben sollten, in aller Aufrichtigkeit die widersprüchlichsten Angaben gemacht haben, so dass damit nichts anzufangen war?«
»Selbstverständlich. Aber dennoch denke ich nicht, dass er Maude Lamont getötet hat.«
»Weil du es nicht möchtest. Womit kann ich dir helfen, außer indem ich dir einfach zuhöre?«
»Eigentlich ist es Tellmans Aufgabe, diesen Mordfall aufzuklären. Doch ich muss unbedingt wissen, was dahintersteckt, weil die Menschen, die sie erpresst hat, eine Rolle in der Rufmordkampagne gegen Serracold spielen …«
Trauer und Zorn traten in ihre Augen. »Und damit hatten sie bereits Erfolg, wobei ihnen der arme Mann auch noch in die Hände gespielt hat. Du wirst ein Wunder vollbringen müssen, um ihn jetzt noch zu retten.« Dann fügte sie etwas munterer hinzu: »Außer natürlich, du kannst beweisen, dass Voisey an der Sache beteiligt war. Sofern er bei diesem Mord die Finger im Spiel hatte …« Sie unterbrach sich. »Aber das wäre wohl mehr Glück, als wir erwarten dürfen. So töricht kann er nicht sein, dazu ist er zu gerissen. Doch sicher steckt er hinter der Erpressung; die Frage ist nur, an welcher Stelle – und ob du das beweisen kannst.«
Er beugte sich ein wenig vor. »Möglicherweise.« Ihre Augen blitzten; angespannt sah sie ihn an. Ihm war klar, dass sie wieder an Mario Corena dachte. Sie konnte nicht weinen, denn sie hatte bereits alle ihre Tränen um ihn vergossen – zum ersten Mal in Rom im Jahre 1848 und dann vor wenigen Wochen in London. Der Verlust stand ihr noch deutlich vor Augen, vielleicht für immer. »Ich muss wissen, womit man Kingsley erpresst
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