Feinde der Krone
hat«, fuhr er fort. »Ich nehme an, es hängt mit dem Tod seines Sohnes zusammen.« Knapp berichtete er, was er in Erfahrung gebracht hatte, zuerst über Kingsley und dessen Rolle bei den Feldzügen gegen die Zulu und dann über den Hinterhalt am Mfolozi, der so bald auf das Heldentum von Rorke’s Drift gefolgt war.
»Ich verstehe«, sagte sie, als er geendet hatte. »Es ist sehr schwer, in die Fußstapfen eines in den Augen der Welt erfolgreichen Vaters oder Bruders zu treten, vor allem wenn es um Heldenmut im Krieg geht. Viele junge Männer haben lieber ihr Leben fortgeworfen als zuzulassen, dass man annahm, sie hätten versagt und nicht geleistet, was man von ihnen erwartete.
« In ihrer Stimme schwang Trauer, und in ihren Augen lag deutlich erkennbar eine schmerzliche Erinnerung. Wer weiß, woran sie dachte – vielleicht an den Krimkrieg, an Balaklava, Alma, Rorke’s Drift, Isandlawana oder den Aufstand in Indien und Gott weiß wie viele weitere kriegerische Auseinandersetzungen, bei denen Verluste an Menschenleben zu beklagen gewesen waren. Möglicherweise reichte ihre Erinnerung gar in ihre Mädchenzeit und bis Waterloo zurück.
»Tante Vespasia …?«
Sie kehrte mit einem Ruck in die Gegenwart zurück. »Natürlich«, sagte sie. »Es dürfte keine unüberwindliche Schwierigkeit bedeuten, von dem einen oder anderen Bekannten zu erfahren, was dem jungen Kingsley am Mfolozi wirklich geschehen ist. Allerdings vermute ich, dass das kaum eine Rolle spielen dürfte, außer für seinen Vater. Zweifellos kommt als Motiv der Erpressung die Behauptung in Frage, er sei als Feigling gestorben, ganz gleich, ob das der Wahrheit entspricht oder nicht. Verletzlich ist auch, wer seine Ehre höher stellt als alles andere und keine Möglichkeit sieht, sich gegen solche Anwürfe zur Wehr zu setzen.«
Pitt musste an Kingsleys gebeugte Schultern und die scharfen Linien in seinem Gesicht denken. Es bedurfte einer ganz besonderen Art von Sadismus, einen Mann um des eigenen Vorteils willen auf eine solche Weise zu foltern. Einen Augenblick lang flammte ein so leidenschaftlicher Hass gegen Voisey in Pitt auf, dass er sich gewaltsam entladen hätte, wenn der Mann in der Nähe gewesen wäre.
»Möglicherweise waren die Umstände seines Todes so unklar, dass man weder die Wahrheit zu erfahren noch eine Lüge zurückzuweisen vermag«, fuhr Vespasia fort. »Aber ich werde versuchen herauszubekommen, was ich kann, und wenn es etwas ist, was dazu angetan ist, General Kingsley zu beruhigen, werde ich ihn davon in Kenntnis setzen.«
»Vielen Dank.«
»Nur hilft uns das vermutlich nicht weiter, wenn es darum geht, Voisey die Erpressung nachzuweisen«, fuhr sie mit einem Anflug von Zorn in der Stimme fort. »Welche Hoffnung hast du festzustellen, wer diese dritte Person ist? Ich nehme an, du
weißt sicher, dass es sich um einen Mann handelt? Jedenfalls hast du ›er‹ gesagt.«
»Ja. Ein Mann gegen Ende der mittleren Jahre, helles oder graues Haar, von durchschnittlicher Größe und durchschnittlichem Körperbau. Er dürfte ziemlich gebildet sein.«
»Also dein Theologe«, sagte sie unglücklich. »Falls er die Spiritistin mit der Absicht aufgesucht hat, sie vor den Augen ihrer Klienten als Betrügerin zu entlarven, hätte das kaum Voiseys Beifall gefunden. Wir dürfen also annehmen, dass Voisey Vergeltung übt, vielleicht indem er den Betreffenden unter extremen Druck setzt.«
Dagegen ließ sich nichts sagen. Pitt musste an den Ausdruck denken, der in Voiseys Augen gelegen hatte, als sie einander im Unterhaus begegnet waren. Der Mann vergaß nichts und vergab nichts. Wieder merkte Pitt, dass er innerlich fror, obwohl die Sonne schien.
Vespasia machte eine finstere Miene.
»Was hast du?«, fragte er.
In ihren silbergrauen Augen lag Unruhe. Sie saß nicht nur als Ergebnis von Jahrzehnten der Selbstdisziplin aufrecht da, sondern auch, weil eine innere Anspannung ihre Schultern straffte.
»Obwohl ich schon lange darüber nachgedacht habe, verstehe ich nach wie vor nicht, warum man dich ein zweites Mal von deinem Posten in der Bow Street entlassen hat …«
»Voisey!«, sagte er mit einer Bitterkeit, die ihn selbst in Erstaunen setzte. Er hatte geglaubt, seine Wut über das ihm angetane Unrecht beherrschen zu können, doch jetzt kam sie zurück wie eine Gezeitenwelle, die ihn mit sich riss.
»Nein«, sagte sie halblaut. »Ganz gleich, wie sehr er dich hasst, Thomas, er würde nie gegen seine eigenen Interessen handeln. Seine
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