Feinde der Krone
über sich, Pitt davon zu berichten, obwohl sie im tiefsten Inneren wusste, dass sie keine andere Wahl hatte. Sie wollte immer noch glauben, dass es ihr irgendwie möglich sei, Rose zu schützen. Aber wovor? Vor der Ungerechtigkeit? Vor einem Fehlurteil? Vor der Wahrheit?
Sie spielte mit dem Gedanken, am nächsten Morgen kurz nach dem Frühstück zu Pitt zu gehen, wenn sie Gelegenheit gehabt hatte, sich zu fassen und sich genau zu überlegen, was sie sagen wollte und mit welchen Worten.
Doch ihr war klar, dass Pitt höchstwahrscheinlich das Haus verlassen hätte, wenn sie so lange wartete, und sie gestand sich ein, dass sie dies Vorhaben auch nur erwog, um sich einreden zu können, sie hätte es versucht, während sie in Wirklichkeit mit voller Absicht zu spät aufgebrochen war.
Daher stand sie gleich um sechs Uhr auf, als ihr die Zofe den Tee brachte. So konnte sie dem Tag schon eher entgegensehen. Sie zog sich an und verließ um halb acht das Haus. Wenn man sich entschlossen hat, etwas zu tun, wovon man weiß, dass es schwierig und unangenehm sein wird, ist es besser, es gleich zu tun, statt lange nachzudenken und sich auszumalen, welche Widrigkeiten eintreten könnten.
Pitt war verblüfft, sie zu sehen. Ungekämmt wie immer stand er in Socken und Hemdsärmeln in der Tür. »Emily!« Sogleich zeigte er sich besorgt. »Ist etwas geschehen? Geht es dir nicht gut?«
»Ja, es ist etwas geschehen«, gab sie zur Antwort. »Und ich bin nicht sicher, ob es mir gut geht oder nicht.«
Er trat beiseite und ließ sie eintreten. Dann folgte er ihr in die Küche, wo sie sich auf einen der Stühle setzte. Sie warf einen raschen Blick um sich. Die vertraute Umgebung hatte sich in Charlottes und Gracies Abwesenheit auf eine Art verändert,
die sie nicht hätte beschreiben können. Der Raum wirkte irgendwie unbenutzt, als geschähe nur das Allernötigste. Es fehlten der Wohlgeruch und die Wärme, die das Kuchenbacken begleiteten, und auf dem Trockengestell an der Decke hing kaum Wäsche. Nur die beiden Kater Archie und Angus, die sich neben dem Herd wachräkelten, schienen sich wohlzufühlen wie eh und je.
»Tee?«, fragte Pitt. Dabei wies er auf die Kanne auf dem Tisch und den Wasserkessel, der auf der Herdplatte dampfte. »Toast?«
»Nein, danke«, erwiderte sie.
Er setzte sich, ohne weiter auf seine halb geleerte Tasse zu achten. »Worum geht es?«
Jetzt konnte sie ihren Entschluss nicht mehr rückgängig machen … oder vielleicht doch? Noch war Zeit, etwas anderes zu sagen, als was sie eigentlich hatte sagen wollen. Er sah sie wartend an. Wenn sie lange genug zögerte, würde er es ihr möglicherweise auch gegen ihren Willen entlocken. In dem Fall brauchte sie kein schlechtes Gewissen zu haben.
Aber damit hätte sie sich selbst belogen. Da sie schon einmal gekommen war, konnte sie zumindest das, was sie tat, mit einer gewissen Selbstachtung tun! Sie hob den Blick und sah ihn an. »Ich habe gestern Abend Rose Serracold getroffen und so mit ihr gesprochen, als wenn wir alleine gewesen wären. Es kommt bei großen Gesellschaften mitunter vor, dass man sich inmitten des allgemeinen Lärms wie auf einer Insel befindet und niemand hören kann, was man sagt. Ich habe sie mit mehr oder weniger sanfter Gewalt dazu gebracht, mir zu sagen, was sie bei Maude Lamont wollte.« Sie hielt inne, während sie sich daran erinnerte, wie sie Rose förmlich in die Ecke getrieben hatte. Ja, Gewalt war das richtige Wort.
Pitt wartete schweigend.
»Sie fürchtet, dass ihr Vater bei seinem Tod verrückt war.« Als sie Pitts Erstaunen sah, auf das sogleich Entsetzen folgte, hielt sie unvermittelt inne. »Sie hat Angst, das von ihm geerbt zu haben«, fuhr sie leise fort, als könnte sie durch Flüstern den Schmerz vermindern. »Sie wollte den Geist ihrer Mutter fragen, ob er wirklich unzurechnungsfähig war. Dazu aber hatte
sie keine Gelegenheit, weil Maude Lamont umgebracht wurde.«
»Ich verstehe.« Er sah sie reglos an. »Wir können General Kingsley fragen, um festzustellen, ob sie Kontakt mit ihrer Mutter gehabt hatte oder nicht, ehe sie offiziell ging.«
Erschreckt fragte Emily: »Meinst du, sie könnte noch einmal zu einer privaten Séance zurückgekehrt sein?«
»Irgendjemand ist noch einmal ins Haus gegangen, aus welchem Grund auch immer«, entgegnete er.
»Aber bestimmt nicht Rose«, sagte sie mit mehr Überzeugung, als sie empfand. »Sie wollte etwas von ihr, was sie von einer Toten nicht bekommen konnte!« Sie beugte sich
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