Feinde der Krone
eine Stunde Bericht für Bericht durchgesehen hatte, merkte er, dass er außer einer Fülle blutleerer Worte nach wie vor nichts über diesen Mann wusste. Es kam ihm vor wie der Versuch, sich anhand des Skeletts eines Menschen dessen Gesicht, Stimme, Lachen und die Art vorzustellen, wie er sich bewegt hatte. Nichts davon war da. Was immer es gewesen war, es war verschüttet. Er hätte den ganzen Tag weiterlesen können und nichts über ihn erfahren.
Er notierte sich die Namen einer großen Zahl weiterer Offiziere und Mannschaftsdienstgrade, die am Mfolozi dabeigewesen waren, um festzustellen, wer von ihnen sich in London befand und möglicherweise bereit war, ihm etwas mehr zu sagen. Dann dankte er dem Angestellten und ging.
Er hatte dem Droschkenkutscher bereits die Anschrift des ersten Mannes auf seiner Liste gegeben, als er es sich anders überlegte und ihm stattdessen Lady Vespasia Cumming-Goulds Adresse nannte. Vielleicht war es ungehörig, sie ohne Einladung und ohne Voranmeldung aufzusuchen, aber bisher hatte sie sich immer bereit gezeigt, bei Dingen zu helfen, von
denen sie überzeugt war. Zwischen ihnen bestand seit der Whitechapel-Affäre, bei der sie nicht nur Seite an Seite gekämpft, sondern gemeinsam tiefe Empfindungen durchlebt, einen Verlust erlitten und schließlich den Sieg errungen hatten, wenn auch zu einem entsetzlichen Preis, ein ganz besonderes Band.
Daher trat er voll Zuversicht an die Haustür und teilte dem Mädchen mit, er müsse in einer dringenden Angelegenheit mit Lady Vespasia sprechen. Er sei gern bereit, auf einen geeigneten Augenblick zu warten, auch wenn das lange dauern würde.
Er wurde ins Empfangszimmer gebeten, doch führte ihn das Mädchen schon nach wenigen Minuten von dort in Lady Vespasias Salon, der auf den Garten ging und den unabhängig von Jahreszeit und Wetter stets ein angenehmes Licht und eine friedvolle Atmosphäre zu erfüllen schien.
Die Dame des Hauses trug die übliche Perlenkette um den Hals und ein kleeblütenfarbenes Kleid. Der Farbton war so hell, dass man ihn kaum als Rosa bezeichnen konnte. Vespasia begrüßte Pitt mit einem Lächeln und bedeutete ihm mit einer leichten Handbewegung, er solle eintreten.
»Guten Morgen, Thomas. Wie schön, dich zu sehen.« Ihre Augen ruhten auf seinem Gesicht. »Ich hatte mehr oder weniger mit deinem Besuch gerechnet, seit Emily mit mir gesprochen hat. Vielleicht sollte ich besser sagen, ich hatte mehr oder weniger darauf gehofft. Voisey bewirbt sich um einen Sitz im Unterhaus.« Als sie den Namen aussprach, klang ihre Stimme belegt. Vermutlich erinnerte sie sich an Mario Corenas Opfer, das Voisey so teuer zu stehen gekommen war.
»Ich weiß«, sagte er leise. Es hätte ihn gefreut, wenn sie nichts davon gewusst hätte, doch sie war in ihrem Leben nie einer Schwierigkeit ausgewichen. Sicherlich käme es einer geradezu demütigenden Kränkung gleich, wenn er jetzt versuchte, sie zu schützen. »Deshalb bin ich hier in London statt mit Charlotte auf dem Lande.«
»Ich bin froh, dass sie fort ist.« Ihr Gesicht wirkte trübselig. »Aber was glaubst du erreichen zu können, Thomas? Ich weiß nicht viel über diesen Victor Narraway. Ich habe mich erkundigt,
aber die Leute, mit denen ich gesprochen habe, wussten entweder selbst so gut wie nichts oder waren nicht bereit, etwas zu sagen. Sei sehr vorsichtig. Traue ihm nur, soweit es nötig ist. Glaube nur nicht, dass er dir mit der gleichen Fürsorge oder der Loyalität gegenübersteht wie Kapitän Cornwallis. Der Mann ist nicht aufrichtig –«
»Weißt du das?«, fiel ihr Pitt unbeabsichtigt ins Wort.
Sie lächelte so flüchtig, dass sie dabei kaum die Lippen bewegte. »Mein lieber Thomas, es ist die Aufgabe des Sicherheitsdienstes, Anarchisten, Bombenleger und solche Männer – und vielleicht auch einige Frauen – zu fassen, die insgeheim darauf hinarbeiten, unsere Regierung zu stürzen. Dazu hat man ihn ins Leben gerufen. Manche dieser Leute wollen an die Stelle unserer Regierung eine nach ihrem eigenen Geschmack setzen, andere wollen einfach zerstören, ohne sich im Geringsten Gedanken darüber zu machen, was danach kommt. Manche arbeiten natürlich im Interesse anderer Länder. Kannst du dir vorstellen, dass John Cornwallis eine Organisation aufbaut, die ihnen in den Arm fällt, bevor ihnen das gelingt?«
»Nein«, gab Pitt mit einem Seufzer zu. »Er ist tapfer und ehrlich bis ins Mark. Er gehört zu den Menschen, die erst das Weiße im Auge des Feindes sehen
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