Feinde der Krone
Lena zu sehr in die Enge trieb, wieder zu töten, sobald er wusste, wo sich die Papiere befanden? Natürlich konnte sie ihm das nicht sagen, weil sie nicht existierten.
»Was wollen Sie hier?«, fragte sie. »Sie sind doch wegen irgendwas gekommen.«
»Nur Miss Lamonts Notizen, aus denen hervorgeht, wer ich bin«, gab er zur Antwort. »Sie ist tot. Sie kann nichts mehr sagen, und meine Aussage steht gegen Ihre.« Er schien wieder zuversichtlicher zu werden. »Es kann keinen Zweifel geben, wem von uns beiden man Glauben schenken würde, seien Sie also nicht so töricht anzunehmen, Sie könnten mich ebenfalls erpressen. Geben Sie mir einfach die Papiere, und ich belästige Sie nicht mehr.«
»Sie belästigen mich nicht«, entgegnete sie ihm. »Und ich habe noch nie im Leben einen Menschen erpresst.«
»Sparen Sie sich die Spitzfindigkeiten«, schnaubte er. »Sie waren ihre Handlangerin. Ob es da einen juristischen Unterschied gibt, weiß ich nicht, einen moralischen gibt es jedenfalls nicht.«
»Ich habe ihr geglaubt! Fünf Jahre habe ich in diesem Haus gearbeitet, bis ich dahintergekommen bin, dass sie eine Betrügerin war! Ich hatte sie immer für einen ehrlichen Menschen gehalten.« Ihre Stimme bebte vor Wut und Enttäuschung. Sie bemühte sich, nicht laut zu schluchzen. Dann sagte sie so leise, dass sich Pitt vorbeugen musste, um etwas zu hören: »Erst nachdem jemand sie dazu gebracht hat, dass sie bestimmte Menschen erpresste, bin ich ihr schließlich auf die Schliche
gekommen … das Magnesiumpulver auf den Drähten zu den Glühbirnen … und der Tisch. Soweit ich weiß … hat sie so etwas früher nie getan.«
Es herrschte eine Weile Stille, ehe er eindringlich fragte: »Es waren also nicht nur … Tricks?« Diese verzweifelt hervorgestoßene Frage kam erkennbar aus tiefstem Herzen.
Sie musste das gemerkt haben. Sie zögerte.
Pitt hörte Narraway atmen und spürte seine Anspannung, während sie so dicht neben einander standen, dass sie einander beinahe berührten.
»Es gibt übernatürliche Kräfte«, sagte Lena sehr leise. »Das habe ich selbst entdeckt.«
Wieder herrschte Stille, als brächte er es nicht über sich, diese Äußerung auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.
»Wie?«, fragte er schließlich. »Woher wollen Sie das wissen? Sie haben gesagt, dass sie mit Tricks gearbeitet hat. Sie sind ihr auf die Schliche gekommen. Belügen Sie mich nicht! Ich habe es Ihrem Gesicht angesehen. Es hat Sie erschüttert!« Es war fast ein Vorwurf, als wäre das ihre Schuld. »Warum kümmern Sie sich um solche Dinge?«
Mit einer Stimme, die wie die eines anderen Menschen klang, sagte sie: »Weil meine Schwester ein Kind hatte, das man nicht taufen wollte, denn es war unehelich geboren. Der Kleine starb…« Sie rang nach Luft, als müsse sie an ihrer Qual ersticken. »Man hat sich geweigert, ihn in geweihter Erde zu begraben, weil er nicht getauft war. Sie ist zu einer Spiritistin gegangen … um zu erfahren, was mit ihm geschehen würde… nach dem Tode. Auch diese Frau war eine Betrügerin. Es war mehr, als meine Schwester ertragen konnte, und sie hat sich das Leben genommen.«
»Das tut mir Leid«, sagte er leise. »Das Kind war schließlich unschuldig …« Er verstummte, wohl weil ihm aufging, dass es zu spät war und er ohnehin die Unwahrheit sagte. Es stand nicht in seiner Macht, die Vorschriften der Kirche in Bezug auf uneheliche Geburt und Selbstmord zu ändern. Dennoch lagen in seiner Stimme Mitleid und Verachtung für jene, die Vorschriften erließen, bei denen das Menschliche zu kurz kam. Offenbar sah er darin kein göttliches Wirken.
Narraway wandte sich um und sah Pitt fragend an.
Pitt nickte.
Man hörte ein Rascheln im Salon, und Narraway setzte seine Beobachtung fort.
»Sie waren am Abend, an dem der Mord geschah, nicht hier«, sagte der Mann. »Ich habe selbst gesehen, wie Sie gegangen sind.«
Sie schnaubte. »Sie haben die Laterne und den Mantel gesehen!« , gab sie zurück. »Glauben Sie, ich hätte nichts in der Zeit gelernt, in der ich hier gearbeitet habe, nachdem ich gemerkt hatte, dass sie eine Betrügerin war? Ich habe aufgepasst und zugehört. Man braucht nur ein paar Seile.«
»Ich habe aber doch gehört, wie Sie die Laterne direkt vor die Haustür gestellt haben, sobald Sie draußen auf der Straße waren.« Es klang wie eine Anschuldigung.
»Ich habe nur ein paar Steine auf den Boden geworfen«, sagte sie verächtlich, »und eine zweite Laterne an einer Schnur
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