Feinde der Krone
vorstellen, was Charles Voisey weniger interessierte als spiritistische Sitzungen. Seine
Schwester, Mrs. Cavendish, war ja wohl nicht so leichtgläubig, dass sie eine solche Veranstaltung besucht hätte, noch dazu während einer so kritischen Zeit. Falls es sich aber doch so verhielt und sie durch ihre Anwesenheit dort kompromittiert worden war – war das gut oder schlecht?
Es überlief ihn kalt bei der Vorstellung, dass Narraway von ihm erwartete, diesen Mordfall im Interesse der von ihm betriebenen Sache auszuschlachten. Der Gedanke, sozusagen Mitwirkender bei dem Verbrechen zu werden, es auszunutzen, um jemanden unter Druck zu setzen, war widerlich.
Er stellte sich dem Arzt, einem Dr. Snow, vor und wandte sich dann an Tellman.
»Was haben Sie bisher in Erfahrung gebracht?«, erkundigte er sich höflich und so neutral, wie er konnte. Auf keinen Fall durfte er jetzt seinen Zorn zeigen. Tellman traf keinerlei Schuld an der Situation, und sofern er ihn gegen sich aufbrachte, würde das die Arbeit an dem Fall nur erschweren.
»Das Hausmädchen Lena Forrest hat ihre Herrschaft heute Morgen aufgefunden. Sie lebt als einziger Dienstbote im Hause«, erläuterte Tellman mit einem Blick, der anzeigte, wie überrascht er war, dass eine so offensichtlich wohlhabende Dame nicht wenigstens eine ständige Köchin oder einen Lakaien hatte. »Sie hat ihr den Frühstückstee gemacht und nach oben gebracht«, fuhr er fort. »Als sie merkte, dass sich niemand im Zimmer befand und das Bett nicht benutzt war, wurde sie unruhig. Sie ist dann hier heruntergekommen, weil sie die Dame des Hauses hier zum letzten Mal gesehen hatte –«
»Wann?«, unterbrach ihn Pitt.
»Gestern Abend, bevor die … Sache anfing.« Tellman vermied den Begriff spiritistische Sitzung . Auch wenn sein hohlwangiges Gesicht völlig ausdruckslos blieb, zeigte ein leichtes Kräuseln seiner Oberlippe, was er von derlei Dingen hielt.
Überrascht fragte Pitt: »Hat sie sie im Anschluss an die Séance nicht mehr gesehen?«
»Sie sagt nein. Ich habe sie ausdrücklich gefragt, ob ihre Herrschaft nicht noch eine letzte Tasse Tee haben wollte oder sie vielleicht nach oben geschickt hat, damit sie ihr ein Bad einließ oder ihr beim Auskleiden half. Sie sagt nein.« Seine
Stimme ließ keinen Widerspruch zu. »Es sieht ganz so aus, als wäre Miss Lamont gern ausgesprochen lange mit gewissen … Besuchern … zusammengeblieben, und von denen wollte keiner, dass sich Dienstboten in der Nähe aufhielten, damit es keine Störung gab und niemand einem über den Weg lief, wenn sie …« Er verzog den Mund und ließ den Satz unbeendet.
»Und dann ist sie hier hereingekommen und hat sie aufgefunden?« Pitt wies mit dem Kopf auf die Gestalt im Sessel.
»Ja, etwa zehn Minuten nach sieben«, gab Tellman zurück.
Pitt war überrascht. »Ist das nicht eine ungewöhnlich frühe Aufstehenszeit für eine Dame? Noch dazu, wenn sie erst abends mit der Arbeit anfing und oft mit ihren Gästen lange aufblieb?«
»Das habe ich das Hausmädchen auch gefragt«, sagte Tellman mit wütendem Blick. »Sie hat gesagt, Miss Lamont sei immer früh aufgestanden und habe zum Ausgleich nachmittags ein kleines Schläfchen gemacht.« Seinem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass er jeden Versuch für aussichtslos hielt, die Gewohnheiten eines Menschen zu verstehen, der überzeugt war, mit Geistern sprechen zu können.
»Hat sie etwas angefasst?«
»Sie sagt nein, und bisher weist nichts auf das Gegenteil hin. Sie hat gesagt, sie hätte gleich sehen können, dass Miss Lamont tot war. Sie habe nicht geatmet, ihr Gesicht sei bläulich angelaufen gewesen, und als sie sie mit einem Finger am Hals berührt habe, sei dieser ganz kalt gewesen.«
Pitt sah mit fragendem Blick auf den Arzt.
Snow schürzte die Lippen. »Der Tod muss irgendwann gestern Abend eingetreten sein«, sagte er und sah Pitt mit durchdringenden Augen fragend an.
Pitt richtete den Blick erneut auf die Leiche und trat einen Schritt näher, um das Gesicht und die sonderbare klebrige Masse genauer in Augenschein zu nehmen, die der Toten aus dem Mund quoll und seitlich über das Kinn lief. Ursprünglich hatte er angenommen, sie habe sich nach der Einnahme von Gift erbrochen, sah aber bei genauerem Hinsehen, dass die Masse eine Struktur hatte und aussah wie ein feines Gewebe.
Er richtete sich auf und wandte sich erneut an den Arzt.
»Können Sie schon sagen, was es ist? Gift?«, fragte er. Seine Gedanken überschlugen sich. »Ihr
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