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Feinde der Krone

Feinde der Krone

Titel: Feinde der Krone Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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die Tat begangen. Oder ein bisher Unbekannter ist später gekommen, und Miss Lamont hat ihn selbst zur Haustür eingelassen. Aber das ist unwahrscheinlich, und soweit das Mädchen gesagt hat, war Miss Lamont nach einer Séance gewöhnlich müde und hat sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, sobald die Besucher gegangen waren. Das Tagebuch erwähnt keinen weiteren Besucher. Niemand ist gesehen oder gehört worden. Um wie viel Uhr sind Sie gegangen, General Kingsley?«
    »Ungefähr eine Viertelstunde vor Mitternacht.«
    »Für einen weiteren Besucher wäre das ziemlich spät«, sagte Pitt.
    Kingsley fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als habe er Kopfschmerzen. Er wirkte müde und erschöpft. »Ich habe wirklich keine Vorstellung von dem, was nach meinem Weggang dort geschehen sein könnte«, sagte er ruhig. »Ihr schien nichts zu fehlen. Sie wirkte in keiner Weise besorgt oder
bekümmert und machte auch nicht den Eindruck, als hätte sie Angst vor jemandem oder erwarte jemanden. Sie war müde, das ja. Die Geister der Abgeschiedenen heraufzubeschwören kostete sie jedes Mal ungeheuer viel Kraft. Sie brachte es danach kaum noch fertig, uns zu verabschieden und zur Tür zu begleiten.« Er hielt inne und sah kläglich in die Leere, die vor ihm lag.
    Tellman warf einen flüchtigen Blick zu Pitt hinüber. Wie peinlich ihm die Tiefe von Kingsleys Gemütsbewegung und das sonderbare Gesprächsthema waren, ließ sich deutlich an der starren Haltung seines Körpers und der Art erkennen, wie er seine Hände unruhig im Schoß knetete.
    »Können Sie uns bitte den Verlauf des Abends beschreiben, General Kingsley?«, sagte Pitt. »Was ist geschehen, nachdem alle anwesend waren? Hat es eine Unterhaltung gegeben?«
    »Jeder … jeder war aus seinen ganz eigenen Gründen gekommen. Ich hatte nicht das Bedürfnis, mit den anderen darüber zu reden, und vermutlich ging es ihnen ebenso.« Bei diesen Worten sah ihn Kingsley nicht an, als sei die Sache nach wie vor privat. »Wir setzten uns um den Tisch und warteten, während Miss Lamont sich konzentrierte, um … die Geister zu beschwören.« Er sprach zögernd. Vermutlich war ihm Tellmans Skepsis ebenso wenig entgangen wie dessen Schwanken zwischen Mitleid und Verachtung.
    Pitt wusste nicht recht, was er selbst empfand. Es war eher ein Unbehagen, eine Art von Bedrückung, als Verachtung. Er hätte nicht sagen können, woran das lag, aber er hielt den Versuch, die Geister von Toten heraufzubeschwören, ob das nun möglich war oder nicht, für unangebracht.
    »Wo haben Sie gesessen?«, fragte er.
    »Miss Lamont auf dem hochlehnigen Stuhl am Kopfende des Tisches«, erwiderte Kingsley. »Ich saß rechts von ihr, mir gegenüber die Frau, links von ihr der Mann mit dem Rücken zu den Fenstern. Natürlich haben wir uns bei den Händen gehalten.«
    Unbehaglich rutschte Tellman auf seinem Sessel hin und her.
    »Ist das üblich?«, erkundigte sich Pitt.
    »Ja, um jeden Verdacht eines Betrugsversuchs auszuschalten.
Manche Medien sitzen sogar in einem Schrank, um doppelt festgehalten zu sein, und ich glaube, auch Miss Lamont hat das gelegentlich getan. Allerdings war ich dabei nicht anwesend.«
    »Warum nicht?«, fragte Tellman dazwischen.
    »Es gab keinen Anlass zum Misstrauen«, versetzte Kingsley mit einem raschen ärgerlichen Blick. »Jeder von uns glaubte ihr. Wir hätten sie nie auf diese Weise … gekränkt. Uns ging es um Wissen, eine höhere Wahrheit, nicht um billige Sensationen.«
    »Aha«, sagte Pitt ruhig, ohne Tellman anzusehen. »Und was geschah dann?«
    »Soweit ich mich erinnere, fiel Miss Lamont in Trance«, sagte Kingsley. »Sie schien etwa eine Handbreit über ihrem Sitz in der Luft zu schweben und sprach nach einer Weile mit vollständig veränderter Stimme. Ich …« Er sah auf den Boden. »Ich nehme an, dass ihr Geisterführer durch sie zu uns sprach.« Die Worte kamen so leise, dass Pitt sie kaum verstehen konnte. »Ein junger Russe, der irgendwo im hohen Norden in der Nähe des Polarkreises bei schrecklicher Kälte ums Leben gekommen war. Er erkundigte sich, was wir wissen wollten.«
    Diesmal machte Tellman nicht die geringste Bewegung.
    »Und hat ihm einer von Ihnen etwas gesagt? Und was?«, fragte Pitt. Er musste herausbekommen, was Rose Serracold hatte wissen wollen, und fürchtete zugleich, dass Kingsley, falls er diese Antwort zuerst gab und Tellmans Reaktion darauf erkannte, seine eigenen Gründe verbergen würde. Vielleicht aber waren auch die von Bedeutung.

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