Feinde der Krone
vor sich, klein, sehr aufrecht, das Haar straff nach hinten gekämmt, ihr munteres Gesicht, die flinken Augen, die alles aufmerksam musterten. Bestimmt hatte sie noch nie einen solchen Ort gesehen, fern von den lauten und engen Straßen der Großstadt, in denen sie aufgewachsen war. Dort drängten sich die Menschen, roch es nach abgestandenem Essen, Abwässern, faulendem Holz und Rauch. Er stellte sich die Umgebung des Dörfchens als weite, offene, nahezu leere Landschaft vor.
Wenn er es recht bedachte, war auch er noch nie an einem solchen Ort gewesen, außer in seinen Träumen und während er sich Bilder wie diese ansah.
Ob sie dort überhaupt an ihn dachte? Wahrscheinlich nicht … oder zumindest nicht oft. Er war nach wie vor nicht sicher, was sie für ihn empfand. Während der Arbeit an dem Fall um die Affäre in Whitechapel hatte es ausgesehen, als wäre sie endlich ein wenig zugänglicher. Nach wie vor waren sie in einer großen Zahl wichtiger Fragen geteilter Meinung. Dabei ging es um Dinge wie Gerechtigkeit, Gesellschaft und die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Alles, was er gelernt hatte, all seine Lebenserfahrung sagte ihm, dass sie Unrecht hatte, aber er konnte in keinem einzelnen Punkt genau sagen, inwiefern. Jedenfalls hatte er keine Möglichkeit, es ihr zu erklären. Sie sah ihn einfach vernichtend und unduldsam an, als wäre er ein aufsässiges Kind, und fuhr mit dem fort, was sie gerade tat – ob sie nun gerade kochte oder bügelte. Sie war
ungeheuer praktisch veranlagt und gab sich den Anschein, als hielten Frauen die Welt in Gang, während Männer lediglich Worte darüber verloren.
Sollte er ihr schreiben?
Das war eine schwierige Frage. Zwar hatte ihr Charlotte Lesen und Schreiben beigebracht, doch lag das noch nicht lange zurück. Würde er Gracie mit der Notwendigkeit, ihm zu antworten, möglicherweise in Verlegenheit bringen? Oder schlimmer, war es denkbar, dass sie Charlotte den Brief zeigte, wenn sie etwas nicht lesen konnte? Schon die bloße Vorstellung ließ ihn vor Betretenheit zusammenzucken. Nein! Auf keinen Fall würde er schreiben. Lieber das Risiko gar nicht eingehen. Ohnehin war es unter Umständen auch besser, vorsichtshalber ihre Adresse nirgendwo schriftlich festzuhalten.
Er hatte das Album noch aufgeschlagen vor sich, als Rose Serracold endlich hereinkam. Er und Pitt begrüßten sie förmlich. Zwar hätte Tellman nicht sagen können, womit er gerechnet hatte, auf keinen Fall aber mit der bemerkenswert schönen Frau, die da in der Tür stand. Sie trug ein lila und marineblau gestreiftes Kleid mit einer Wespentaille und riesigen Ärmeln. Ihr aschblondes Haar hatte sie in einem Zopf um den Kopf gelegt, statt es gelockt zu tragen, wie es die Mode verlangte. Mit aquamarinblauen Augen sah sie die beiden Männer überrascht an.
»Guten Morgen, Mistress Serracold«, brach Pitt das Schweigen. »Ich bedaure, unangemeldet bei Ihnen aufzutauchen, aber die tragischen Umstände von Miss Maude Lamonts Tod haben mir keine andere Wahl gelassen. Mir ist klar, dass Sie jetzt vor der Unterhauswahl viel zu tun haben, aber die Sache duldet keinen Aufschub.« Er sagte das in einem Ton, der erkennen ließ, dass eine Diskussion sinnlos war.
Sie stand sonderbar reglos da und wandte sich nicht einmal zu Tellman um, dessen Anwesenheit ihr bewusst sein musste, denn er befand sich kaum einen Schritt von ihr entfernt. Unbewegt sah sie Pitt an. Unmöglich hätte man sagen können, ob ihr Maude Lamonts Tod bereits bekannt war. Schließlich sagte sie sehr leise: »Ach ja. Und was könnte ich Ihrer Ansicht nach Hilfreiches sagen, Mister … Pitt?« Es kostete sie offensichtlich
Mühe, sich an den Namen zu erinnern, den ihr der Butler gesagt hatte. Sie wollte nicht unhöflich sein, es zeigte lediglich an, dass Pitt nicht zu ihrer Welt gehörte.
»Sie sind einer der Menschen, die Miss Lamont als Letzte lebend gesehen haben, Mistress Serracold«, antwortete Pitt. »Da Sie außerdem die anderen gesehen haben, die bei der Séance anwesend waren, dürften Sie wissen, was geschehen ist.«
Sofern sie sich fragte, woher Pitt das wusste, gab sie es nicht zu erkennen.
Tellman war gespannt zu sehen, auf welche Weise Pitt nützliche Einzelheiten von dieser Frau erfahren wollte. Sie hatten sich nicht abgesprochen. Ihm war klar, dass Pitt selbst unsicher war. Die Frau fiel in sein neues Aufgabengebiet beim Sicherheitsdienst, da ihr Gatte für das Unterhaus kandidierte. Auch wenn ihn Pitt nicht in seine
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