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Feinde der Krone

Feinde der Krone

Titel: Feinde der Krone Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Ging es nicht bei der Politik um die Kunst des Möglichen?
    Sie selbst war früher ausgesprochen pragmatisch gewesen. Warum war das jetzt nicht mehr so? Was war der Grund dafür, dass sie nicht mehr die ehrgeizige und nach außen hin stets zuversichtliche junge Frau war wie früher? Noch während sie sich die Frage stellte, war ihr klar, dass die Antwort mit den Tragödien, der Schwäche und den Opfern zu tun hatte, denen sie in einigen von Thomas’ Fällen begegnet war, während sie ihm mit Charlotte bei der Arbeit half. Sie hatte gesehen, wie Ehrgeiz zu Charakterlosigkeit führt, wie Menschen als Ergebnis blinder Zielstrebigkeit Zweck und Mittel verwechselten. Es war alles nicht mehr so einfach, wie es ihr einst erschienen war. Selbst Menschen, die nur Gutes im Auge hatten, ließen sich leicht täuschen.
    Jack küsste sie sanft zum Abschied. Ihm war klar, dass er nicht sagen konnte, wann er zurück sein würde. Sie nickte, als er vorschlug, sie solle nicht auf ihn warten, doch wusste sie, dass sie es dennoch tun würde. Ohnehin könnte sie nicht einschlafen, solange sie nicht wusste, was Gladstone von ihm wollte … und was er darauf geantwortet hatte.
    Sie hörte, wie er durch das Vestibül ging und die Haustür geöffnet und geschlossen wurde.
    Der Diener erkundigte sich, ob er weiter servieren sollte. Er musste die Frage wiederholen. Sie verzichtete.
    »Bitten Sie die Köchin in meinem Namen um Entschuldigung«, sagte sie. »Ich kann nicht essen, solange ich nicht weiß, was es Neues gibt.« Zwar wollte sie ihre Motive nicht offen legen, doch war das kein Grund, unhöflich zu sein. Sie wusste längst, dass sich höfliches Verhalten unter Umständen zehnfach auszahlte.
    Sie beschloss, im Empfangszimmer zu warten. Dort las sie in H. Rider Haggards jüngstem Roman weiter, den sie vor etwa einer Woche dort hatte liegen lassen. Vielleicht würde er sie
ablenken, so dass die Zeit rascher verging und ihr weniger bedrückend vorkam.
    Diese Hoffnung erfüllte sich nur zum Teil. Eine halbe Stunde lang fesselte die Beschreibung des schwarzen Kontinents Afrika sie, dann kamen ihre eigenen Ängste wieder an die Oberfläche, und sie stand auf und ging unruhig im Raum hin und her. Ihre Gedanken schossen in alle Richtungen und kamen zu keinem Ergebnis. Was wollte die lustige und tapfere Rose Serracold unbedingt wissen, dass sie sich eines Mediums bediente, und sei es um den Preis des Untergangs? Offenkundig hatte sie Angst. Um wen – sich selbst, Aubrey oder einen anderen Menschen? Warum konnte das nicht bis nach der Wahl warten? War sie so fest von Aubreys Erfolg überzeugt, oder wäre es nach der Wahl zu spät?
    Es fiel ihr leichter, daran zu denken, als sich den Kopf über Jack und die Frage zu zerbrechen, warum Gladstone nach ihm geschickt hatte.
    Sie setzte sich wieder und schlug das Buch erneut auf. Obwohl sie die Seite zweimal las, wusste sie nicht, worum es in dem Text ging.
    Sie hatte mindestens zwei Dutzend Mal auf die Uhr gesehen, als sie endlich die Haustür und danach Jacks vertraute Schritte im Vestibül hörte. Sie nahm das Buch wieder zur Hand, damit er sehen konnte, wie sie es bei seinem Eintreten beiseite legte. Sie lächelte ihm zu.
    »Soll dir Morton etwas holen?«, erkundigte sie sich, die Hand schon zum Glockenzug ausgestreckt. »Wie war eure Besprechung?«
    Er zögerte kurz, dann lächelte er. »Danke, dass du auf mich gewartet hast.«
    Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. Sie spürte, wie ihr die Röte warm in die Wangen stieg.
    Sein Lächeln wurde breiter. Es war genau die bezaubernde Mischung aus Fröhlichkeit und leichter Verärgerung, die sie von Anfang an so an ihm geschätzt hatte. Sogar schon zu einer Zeit, als sie ihn noch für oberflächlich und höchstens unterhaltsam hielt.
    »Ich habe nicht auf dich gewartet!«, gab sie zurück, bemüht,
sein Lächeln keinesfalls zu erwidern, doch merkte sie, dass ihre Augen sie verrieten. »Ich will nur hören, was Mister Gladstone zu sagen hatte. Ich interessiere mich lebhaft für Politik.«
    »Dann muss ich es dir wohl sagen«, erwiderte er mit großzügiger Gebärde. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Tür zurück. Dann änderte sich seine Körperhaltung mit einem Mal. Zwar hielt er sich nicht gerade gebeugt, aber er senkte eine Schulter ein wenig nach vorn, als stütze er sich leicht auf einen Stock. Er sah sie mit zwinkernden Augen an. »Der Große Alte Mann war mir gegenüber äußerst freundlich«, sagte er beiläufig.

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