Feinde der Krone
Stimmenthaltung, partielle Blindheit im richtigen Augenblick, Beiseitesehen. Oder vielleicht ist der treffende Vergleich der mit Pilatus, der sich die Hände in Unschuld wäscht?«
»Aubrey Serracold ist nicht Jesus«, gab Emily zu bedenken.
»Meine Ehre steht auf dem Spiel«, sagte er schroff. »Wie sehr muss ich mich verbiegen, um gewählt zu werden? Und wie sehr, um das Amt zu behalten? Es muss ja nicht unbedingt Aubrey sein – wenn er nicht wäre, wäre es jemand anders oder eine andere Sache.« Er sah sie herausfordernd an, als erwarte er von ihr eine Antwort.
»Was ist, wenn Rose die Frau tatsächlich umgebracht hat?«, fragte sie. »Und wenn Thomas das herausbekommt?«
Er schwieg. Einen Augenblick lang sah er so elend aus, dass sie wünschte, sie hätte nichts gesagt. Doch die Frage bedrängte sie, hallte in ihr nach und brachte andere in ihrem Gefolge mit sich. Wie viel sollte sie Thomas sagen und wann? Sollte sie versuchen, selbst mehr herauszubekommen? Vor allem aber: wie konnte sie Jack schützen? Was war gefährlicher: wenn er zu einer fragwürdig gewordenen Sache hielt und damit seinen eigenen Unterhaussitz aufs Spiel setzte oder wenn er den Freund verriet und das Amt möglicherweise um den Preis der Aufgabe eines Teils seiner selbst erkaufte? War er es jemandem schuldig, mit Serracold gemeinsam unterzugehen?
Mit einem Mal war sie entsetzlich wütend, weil Charlotte irgendwo in Dartmoor in einem Häuschen auf dem Lande saß, keine Entscheidungen zu treffen brauchte und ihre größte Sorge die häuslichen Aufgaben waren, einfache, alltägliche Dinge. Vor allem aber war sie wütend, dass sich die Schwester an einem Ort befand, wo sie ihr nicht all das mitteilen und ihre Meinung einholen konnte.
Hatte Aubrey überhaupt eine Vorstellung davon, was da vor sich ging? Sie sah sein argloses Gesicht mit dem fortwährenden leicht spöttischen Ausdruck vor sich und begriff, dass er sehr verletzlich sein musste.
Doch nicht sie musste ihn schützen; diese Aufgabe fiel Rose zu. Warum tat sie das nicht, statt irgendwelchen Stimmen aus
dem Totenreich nachzujagen? Welche Rolle konnte das, was sie da unbedingt wissen wollte, schon spielen?
»Mach ihm klar, was passiert ist!«, sagte sie.
Jack war verblüfft. »Du meinst die Sache mit Rose? Weiß er das denn nicht?«
»Keine Ahnung. Nein … woher soll ich das wissen? Wer weiß schon, was wirklich zwischen zwei Menschen vor sich geht? Ich meine damit, mach ihm die politischen Fakten klar. Sag ihm, dass du ihn nicht unterstützen kannst, wenn er mit seinen sozialistischen Vorstellungen zu weit geht.«
Sein Gesicht verhärtete sich. »Das habe ich bereits getan. Ich nehme allerdings nicht an, dass er mir geglaubt hat. Er hört nur, was er hören will.« Das unauffällige Eintreten des Butlers unterbrach ihn. »Was gibt es, Morton?«, fragte er stirnrunzelnd.
Der Butler stand stocksteif und mit würdevollem Gesicht da. »Mister Gladstone möchte gern mit Ihnen sprechen, Sir. Er befindet sich im Klub in Pall Mall. Ich habe mir erlaubt, Albert zu beauftragen, dass er anspannen lässt, und hoffe, dass das in Ihrem Sinne war.« Mortons Ansicht nach bestand daran sicherlich nicht der geringste Zweifel, denn er war ein glühender Bewunderer des Großen Alten Mannes, und die Vorstellung, einer von ihm ausgesprochenen Bitte nicht sofort nachzukommen, war ihm gänzlich fremd.
Emily sah, wie Jack erstarrte, und sie hörte, wie er leise die Luft einsog. Stand der Mann an der Spitze der Liberalen Partei im Begriff, Jack in Bezug auf Aubrey zur Vorsicht zu mahnen? Jetzt schon? Oder schlimmer: ging es um das Angebot eines mit wirklicher Macht verbundenen höheren Amtes für den Fall, dass Gladstone die Wahl gewann? Mit einem Mal begriff sie, dass sie davor wirklich Angst hatte, und diese Erkenntnis verursachte ihr Übelkeit. Vielleicht bot ihm Gladstone Möglichkeiten an, an die Jack bisher nur im Traum gedacht hatte. Aber welchen Preis würde er dafür zahlen müssen?
Doch auch wenn er in Wahrheit etwas anderes von Jack wollte, blieb immer noch die Befürchtung, dass Jack in Versuchung geführt und von seinem Weg abgebracht werden konnte. Warum traute sie ihm nicht zu, dass er selbst die Falle
erkannte, bevor er hineinging? Zweifelte sie an seinen Fähigkeiten? Oder hatte sie Bedenken, dass seine seelische Kraft nicht ausreichen würde, um sich abzuwenden, wenn er die lockende Belohnung dicht vor sich sah? Würde er Rechtfertigungen finden, vorgeschobene Vernunftgründe?
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