Feinde der Zeit: Roman (German Edition)
wenige Zeitreisende gesehen worden. Ich habe als Teenager Dr. Melvins Untersuchungen gelesen, die bis in die 1950er Jahre zurückreichten. Wir wussten, wie Zeitreisen funktionieren, dass diese Gene willkürlich bei einzelnen Personen auftauchten und dass es nur sehr selten vorkam, dass jemand dazu in der Lage war, durch die Zeit zu springen und das zu überleben. Aber eine neue Zeitleiste zu erschaffen, ein Paralleluniversum … das war meine Theorie, nur dass es nicht möglich war.« Auf ihrem Gesicht zeigte sich eine merkwürdige Begeisterung, wie sie nur ein brillanter und leicht verrückter Wissenschaftler aufzubringen imstande war. »Auch jetzt, in diesem Jahr, ist es noch nicht möglich.«
Äh, wie bitte? »Äh, was?«
»Du hast gedacht, die Halbsprünge wären das, was dich von den anderen unterscheidet, aber das ist nur eine Art deines Körpers, sich zu schützen, wenn du einen Supersprung machen willst, es aber nicht hinkriegst. Zumindest nehme ich das an.« Sie machte eine Pause. »Du bist der Einzige, der eine neue Zeitleiste erschaffen kann. Thomas nicht, und auch die anderen nicht. Das war so ein Bauchgefühl, das ich hatte. Wenn ich den geklonten Zeitreisenden mit einem normalen Menschen mischen würde, würden sich Verästelungen von unserer Hauptwelt bilden. Ein Ausweg aus dieser Welt, für den Fall, dass du einen brauchst.«
Ich versuchte, diese neue Information zu schlucken, doch sie blieb auf halbem Weg stecken. »Moment mal. Dann ist das, was alle glauben, die Tempest angehören, nämlich, dass die EOTs permanent neue Zeitleisten erschaffen, weil sie keine Supersprünge machen können, nicht wahr?«
»Denk mal nach, Jackson. Vorher haben wir nur selten EOTs gesehen, und wenn, dann auch nur wenige, aber plötzlich sind sie überall. Vielleicht wurden dir diese Zahlen vorenthalten, aber nach allem, was du erzählt hast, hat sich die Welt stark verändert, seit du diesen Sprung zurück ins Jahr 2007 gemacht hast. Als hättest du eine Tür aufgemacht, durch die sie jetzt schlüpfen können. All jene mit dem Tempus-Gen, die nicht stark oder begabt genug waren, um den Supersprung zu schaffen, wussten nicht mal, dass sie durch die Zeit reisen können, und plötzlich können sie es. Es ist so, als hättest du ihnen eine Abzweigung zur Verfügung gestellt.«
Plötzlich sah ich wieder diese Reihe von EOTs vor mir, die unvermittelt in Heidelberg aufgetaucht war. Alle waren von der steigenden Anzahl der EOTs schockiert gewesen. Ich hatte ihnen die Tür geöffnet, sie kamen aus der Welt (oder den Welten?), die ich geschaffen hatte.
Auch die Aufregung, mit der Dad, Dr. Melvin und Chief Marshall mir in dieser 2007er Zeitleiste meine Fragen beantwortet hatten, fiel mir wieder ein. Damals hatten sie zum ersten Mal einen Beweis dafür vor sich gehabt, dass Eileens Theorie sich erfüllte.
»Aber warum solltest du das wollen?«, fragte ich unwillkürlich.
»Ich habe nicht unbedingt geplant, dass die anderen dir folgen können, aber jetzt sehe ich, dass es möglich ist. Ich dachte, auf diese Weise könntest du ihnen, falls nötig, entkommen. Irgendwo hingehen, wohin sie dir nicht folgen können.« Ihr traten erneut Tränen in die Augen, und sie legte kurz die Hände vors Gesicht. »Ich habe nie gewollt, dass du eine Waffe wirst, Jackson. Und ich habe nie gewollt, dass Courtney krank wird. Aber als Emily zu mir kam, um mir zu sagen, dass du dabei sein würdest und möglicherweise auch die Lösung mit herbeiführen würdest, wusste ich, dass ich es akzeptieren muss. Es geschehen lassen muss. Dass ich alles tun muss, was ich kann, um dich zu einem Menschen zu machen, der nicht aufhört, nach der richtigen Antwort zu suchen.«
So verrückt diese Information auch klang, sie ergab beinahe Sinn. Eileen wusste, dass Courtney und ich von Menschen umgeben sein würden, die die Kontrolle übernehmen konnten, versuchen konnten, uns zu benutzen. Also hatte sie uns einen Ausweg gebaut. Eine Wahlmöglichkeit. Ein kleines bisschen freien Willen.
Das Klingeln des Telefons unterbrach uns. Um drei Uhr in der Nacht. Eileen zuckte vor Schreck zusammen, dann sagte sie: »Tut mir leid, ich muss abnehmen.«
Sie ging in die Küche, und ich hörte, wie sie »Kevin!« sagte.
Ich stand auf, schüttelte meine Beine aus und ging zur Balkontür. Regen prasselte gegen die Balkonwand. Regen, den ich vielleicht mit meinem letzten Sprung heraufbeschworen hatte. Ich schloss die Jalousien, da ich mich zu exponiert fühlte, und ging zum Kamin.
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