Feinde der Zeit: Roman (German Edition)
Darauf standen Bilder, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Dad, wie er mich auf dem Schoß hielt, oder Dad am Klavier. Dad, wie er mit der schlummernden Courtney im Arm im Schaukelstuhl schlief.
»Ja, den Kindern geht’s gut«, sagte Eileen im Gespräch mit der jüngeren Version von Dad.
Ich kniete mich hin und nahm ein Puzzle von einem Stapel auf dem Boden. Diese Spielsachen waren der Beweis für meine Kindheit hier. Der Beleg dafür, dass ich eine Mutter hatte. Zumindest für kurze Zeit. Traurigkeit befiel mich, als mir bewusst wurde, dass meine einzigen Erinnerungen an Eileen fünf Minuten in einem Sandkasten und ein paar Puzzles waren.
Und die heutige Nacht. Ich hatte heute Nacht.
»Jackson trägt deinen Werkzeuggürtel sogar im Bett«, sagte Eileen. »Er kann es gar nicht erwarten, dass du zurückkommst.« Dann folgte eine längere Pause. »Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Ich bin nur müde. Und ich vermisse dich.«
Ihre Stimme zitterte. Ich fragte mich, wie der Dad da am Telefon mit dieser Situation umging. Dann kam mir eine kuriose Idee, wahrscheinlich weil ich ihn so lange nicht gesehen hatte. Und ich wollte ihn wirklich gern mal wiedersehen oder zumindest seine Stimme hören. Ich versuchte mich zu erinnern, wann genau er Eileens Auskünften zufolge abgereist war. Und als es mir nicht mehr einfiel, wählte ich einfach ein zufälliges Datum in der Vergangenheit aus. Dann schloss ich die Augen und konzentrierte mich auf diesen Tag. Fast hätte ich laut aufgeschrien, als ich wieder das vertraute Gefühl hatte, auseinandergerissen zu werden. Es war lange her, dass ich einen Halbsprung gemacht hatte, und es kam mir schlimmer vor, als ich es in Erinnerung hatte.
5. Oktober 1991
Meine Belohnung dafür, dieses schreckliche Gefühl ausgehalten zu haben, war die Wohltat, den hämmernden Kopfschmerz nicht mehr zu spüren und auch nicht die Folgen der kleinen Schlägerei, in die ich vor meinem Sprung ins Jahr 1992 verwickelt gewesen war. Ich landete erneut in der Küche und hörte, dass Musik spielte.
Ein Song von Billy Joel.
Langsam schlich ich in den Flur. Es waren keine Stimmen zu hören, doch als ich um die Ecke ins Wohnzimmer spähte, sah ich Dad.
Eine sehr junge Version von Dad, ungefähr in meinem jetzigen Alter. Er lag auf dem Teppich direkt vor dem brennenden Kamin, hatte die Augen geschlossen und tippte im Takt der Musik mit den Fingern. Mir fiel wieder ein, dass er irgendwie gespürt hatte, dass ich mich in diesem Schrank versteckt hatte, als ich ins Jahr 2003 gesprungen und in seinem Büro gelandet war. Wenn ich ihn eine Weile beobachten wollte, würde ich sehr vorsichtig sein müssen.
Am anderen Ende des Flurs öffnete sich eine Zimmertür, und ich sprang zurück in die Küche und drückte mich an die Wand, als Eileen vorbeihuschte; sie schaute nicht mal in meine Richtung. Dann kehrte ich zurück in den Flur und lauschte.
»Der Mann schläft während der Arbeit«, hörte ich Eileen sagen.
Dann sprach Dad. »Wenn ich hier liege und die Augen zumache, fühlt es sich beinahe so an, als … als könnte ich überall sein.«
»Überall? Zum Beispiel auch vierzig Jahre in der Vergangenheit?«, fragte Eileen leise.
War das ein Zufall, oder sprachen sie über Zeitreisen?
»Vielleicht«, sagte Dad.
Das Lied war zu Ende. Ich hielt den Atem an und fragte mich, ob er mich gehört hatte. Einige Sekunden später sagte er: »Den hier finde ich gut.« Und ein anderer Song begann.
Wieder Billy Joel.
Ihre Stimmen wurden leiser und die Musik lauter. Ich kroch auf allen vieren hinters Sofa, spähte um die Ecke und sah sie beide Seite an Seite auf dem Teppich liegen. Dann drehte Dad sich auf die Seite und stützte sich auf. Ich hielt erneut den Atem an, weil ich sicher war, dass er mich gesehen haben musste. Aber seine Augen ruhten auf Eileen.
»Was ist?«, fragte er plötzlich.
»Du«, sagte sie lächelnd. »Du verwirrst mich. Vielleicht weil ich jetzt dein Geheimnis kenne. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.«
Geheimnis? Welches Geheimnis?
»Was willst du schon tun?«, fragte Dad, und ich hörte über die Musik hinweg die Besorgnis in seiner Stimme.
Dann flüsterte Eileen etwas, das ich nicht verstehen konnte, doch Dads besorgte Miene entspannte sich, und er sah sie amüsiert an. Dann beugte er sich hinab und küsste sie. »Du machst dir also Sorgen, dass ich ein unschuldiger Junge bin, der nicht damit klarkommt, von einer schönen Frau verführt zu werden.«
O Gott. Jetzt war klar, worauf
Weitere Kostenlose Bücher