Feindesland
musste, weil es der Gesetzgeber den Öffentlich-Rechtlichen so vorschreibt.
»Eigentlich hätte ich noch große Lust weiterzumachen«, sagte der Kameramann, »aber ich darf nicht.«
Ich muss an Arzte denken, denen der Staat trotz seiner neuen Regelungswut immer noch nicht verbietet, 48 Stunden lang durchzuarbeiten, und komme zu dem Schluss, dass eine ordentlich geschnittene Reportage demnach wichtiger sein muss als ein ordentlich vernähter Bauch nach einer Operation.
»Okay, Ulli, der Sinn der Übung ist, dass du zwar den Motor anlässt, aber gar nicht losfahrst, weil du dich schon im Stehen mit deinem Fahrgast verquatschst. Oder besser: Du quatschst ihn tot, und er wird wahnsinnig. Du merkst halt nicht, wie unerträglich du selber bist. Okay?«
Ulli Heinrich nickt im Auto und macht sich für den zwölften Versuch der Szene bereit. Den Fahrgast spielt ein Nachwuchsdarsteller von der Universität der Künste. Hartmut und ich stehen auf der Straße neben dem Drehschauplatz und halten Kaffeebecher in der Hand. Uns tut der Rücken weh. Wir müssen an diesem Drehtag nichts tun, sind aber bereits völlig fertig. Ein ganzer Tag für zwei Minuten. Mir war nicht klar, wie mühselig Fernsehen ist.
Der Regisseur sagt: »Und los!«, doch kaum hat Ulli Heinrich mit seinem Text begonnen, brüllen zwei vorbeilaufende junge Männer so laut in die Szene rein, dass kein Toningenieur der Welt es später wegschneiden kann.
»Ey, Ulli!«, bölken Sie, »Uuuuuuuuulliiiiii, alte Socke!«
Der Schauspieler schüttelt leicht angewidert den Kopf.
Der Regisseur brüllt: »Hier wird gedreht, verdammte Scheiße!«
»Alter?«, erwidert einer der jungen Männer, »hast du keinen Respekt?«
Hartmut wirft seinen Kaffeebecher auf den Boden und geht auf die zwei Typen zu. Sie sind um die 18, einer stammt aus Marokko, der andere aus Thüringen. Sie versuchen, sich wie Puff Daddy zu kleiden, sehen aber aus wie Oli P.
Ich weiß, was jetzt kommt. Was jetzt kommen kann. Hartmut ist in dieser Stadt jeden Tag mehr geladen. Wo andere Gewalt-Ausübungsberechtigungsscheine haben, hat er Zorngutscheine angesammelt. Seine Sammelmappe muss mittlerweile sehr dick sein. Es wäre möglich, dass er die Männer schlägt, angezeigt wird, die Verhandlung verliert und ins Gefängnis wandert. Er wird Vater. Ein Kind braucht seinen Papa. Ich weiß das, denn sosehr meine Mutter sich auch allein bemüht hat: Es war nicht alles in Ordnung. Ich muss Hartmut aufhalten. Ich packe ihn an der Schulter.
»Was?«, zischt er, fast so, als sei ich der Feind.
»Was willst du jetzt tun?«, frage ich.
»Ich mach sie platt. Die sollen sich verpissen. Siktir lan!«
»Hartmut«, sage ich, »hör auf, sonst wirst du wie sie. Siehst du das denn nicht? Willst du so auch als Vater sein?«
Er atmet schwer.
»Es muss doch auch andere Lösungen geben«, sage ich.
Hartmut sagt: »Die wollen Respekt. Hast du das gehört? Kannst du mir sagen, für was? Für was denn, verdammte Scheiße??!!«
Ich sehe ihn an, gebe ihm ja recht, will aber auch, dass es aufhört.
Dann scheint ihm ein Licht aufzugehen. Es leuchtet in seinen Augen auf wie die Scheinwerfer eines Zugs, der sich aus Hartmuts Inneren heraus dem Tunnelausgang nähert. Er krempelt die Ärmel hoch und geht auf die Jungs zu. Sie machen sich kampfbereit.
Der Regisseur und das Drehteam schauen zu uns rüber; auch Schauspieler Heinrich streckt nun sehr interessiert den Kopf aus dem Auto.
Hartmut bleibt vor den jungen Männern stehen, sieht sie freundlich an und sagt: »Ihr wollt Respekt?«
Sie sind perplex, obwohl das ja ihre korrekte Bestellung war.
Hartmut sagt: »Wisst ihr was, ich habe heute meine Spendierhosen an. Ihr bekommt Gratisrespekt, alle beide.«
Hartmut verbeugt sich. Dann knufft er ihnen vor die Schulter wie Arbeitskollegen.
Der Thüringer und der Marokkaner schwanken und wissen überhaupt nicht mehr, was sie tun sollen. Hartmut hat sie aus dem Konzept gebracht. Er hat ein neues erfunden. Ab sofort müssen sich diese Typen den Respekt nicht mehr verdienen, sondern bekommen ihn hinterhergeworfen wie wertlose Socken von KiK. Gratisrespekt.
Ich schmunzele und erspähe wenige Schritte weiter eine dreckige, kleine Frittenbude mit schwarzer Schrift auf weißem Plastikschild, deren Scheibe von innen schwitzt.
»Komm, Pommes Spezial«, sage ich. Wir lassen die zwei Typen mit ihrem Gratisrespekt einfach stehen und gehen hinein.
Fünf Minuten später sitzen wir am Tisch neben der schwitzenden Scheibe und stochern in
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