Feindesland
legt auf, sieht Herrn Chang entschuldigend an und sagt: »Man ist nicht sein eigener Chef, selbst wenn einem die Firma gehört. Die Zeit ist der Chef!«
Herr Chang sagt: »Die Zeit ist, was wir daraus machen.«
Das sehen wir ein. Alles, was Herr Chang sagt, sieht man augenblicklich ein. Wir besprechen noch in ruhigen zehn Minuten eine Menge Dinge und verabschieden uns dann mit dem Gefühl, schon jetzt weniger Angst vor dem großen Tag zu haben.
Ich fahre seit Wochen den Love Wagon, aber als wir in der Zentrale ankommen, setzt Mario mich in ein konventionelles Wunschtaxi, da unsere Liebesschaukel bereits mit anderem Fahrer unterwegs ist. Ich tue, wie mir geheißen, und fahre zu meinem ersten Gast, der vor dem Gebäude eines riesigen Musikkonzerns auf mich warten soll. Vierzehn Minuten später bin ich da. Ich sehe den Fahrgast schon von weitem: mittelgroß, Hornbrille, sportliche Hose, Polohemd, Dreitagebart und eine Umhängetasehe aus Zeltstoff. Ein typischer Vertreter der Berliner Medienschaffenden. Die sind manchmal anstrengend, aber prinizipiell recht umgänglich. Er öffnet die rückwärtige Tür, steigt ein, seufzt und sagt: »Hallo! Zum Jolly Hotel an der Friedrichstraße. Außerdem, ähhhm, Thunfischbaguette, eine Orangina und als Musik einen Schlagersender.«
»Einen Schlagersender? Hab ich das richtig gehört?«
»Ja.«
»Mmmmkay.«
Ich gebe ihm seinen Proviant aus der Kühlbox und suche einen Sender, bis ein Song von Michael Wendler ertönt. Ich schaue noch mal skeptisch nach hinten.
»Ist richtig«, sagt er und grinst.
»Smalltalk, Bigtalk, Notalk?«, frage ich.
»Small, aber hallo!«
Ich fahre los.
Nach hundert Metern sage ich: »Wir hatten ja keinen richtigen Frühling ...«
Der Typ kichert, reißt sich zusammen und sagt: »Nein, das liegt mit Sicherheit an der Klimakatastrophe.« Ich sage: »Die Amerikaner ...«
Ich komme nicht weiter, weil er in Gelächter ausbricht. »Was ist denn?«, frage ich, und mein Zwerchfell spannt sich auch schon.
»Tut mir leid, Mann, aber das ist so süß, wie du dich bemühst. Aber man merkt es eben, dass ihr euch bemüht. Ich fahre jetzt seit Wochen immer mit MyTaxi, und egal, welchen Fahrer oder welche Fahrerin ich erwische - immer merke ich, dass ihr intelligenter seid als der klassische Fahrer, der den Smalltalk wirklich ernst meint.«
Ich lächle.
»Aber na ja, ist ja auch kein Wunder«, sagt er, »ihr habt's ja auch faustdick hinter den Ohren. Alle Abitur, euer Chef sogar fast Doktor der Germanistik und Philosophie. Eure Werbechefin bildende Künstlerin aus bestem Hause.«
»Moment mal!«, sage ich und trete fast auf die Bremse. »Woher weißt du das alles?«
»Ja wie, woher weiß ich das? Woher werde ich das wohl wissen? Aus dem BürgerVZ!«
Jetzt trete ich wirklich auf die Bremse. Ich fahre an den Straßenrand. Das ist das Tolle an Berlin, dass die Straßen fast überall so ausladend breit sind, dass man einfach anhalten kann wie einst der Kutscher mit dem Gespann.
»Das BürgerVZ ist online???«, frage ich.
»Seit drei Tagen. Kriegt ihr denn nichts mit?«
»Und wie kommen unsere Daten und Profile da rein? Das haben wir nicht selbst gemacht.«
»Dann waren es eben die Watcher.«
»Die was?«
»Die User mit besonderen Befugnissen. Datensammler, Schnüffler, kleine Informations-Eichhörnchen.« Der Mann lehnt sich auf der Rückbank zurück, beißt ins Brot und verdreht die Augen. Kauend sagt er: »54 Millionen registrierte Bürger. Sie sind fast durch. Kleinkinder und Entmündigte fallen raus. Die Agentur, die das erfunden hat, hatte der Regierung dazu geraten, nur werberelevante Menschen zwischen 14 und 49 zu registrieren, aber das haben die Politiker natürlich abgelehnt. Na ja, und jetzt geht es wieder los, das Theater!«
»Wer macht Theater?«
»Die Nutzer selber! Das finde ich sogar ganz originell. Man kriegt doch in dem System nur Punkte, wenn man besonders >richtig< lebt, nicht wahr? Gesund und moralisch und sportlich und so. Jetzt gehen die Nutzer hin und haben einen Anti-High-score entwickelt. Man prahlt damit, mit wie vielen Punkten man im Minus ist! Je mehr einer säuft, hurt, raucht, Killerspiele spielt oder faul auf der Haut liegt und Zeit vergeudet, desto mehr rutscht er in die roten Zahlen.«
Ich muss grinsen. Vielleicht hat Hartmuts Buch ja doch etwas bewirkt. Dennoch laufen mir kalte Schauer über den Rücken.
Im Schlagerradio singt Olaf Henning, er hole gleich sein Lasso raus.
Mein Gast sagt: »Weißt du, was perfekt
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