Feine Familie
einem Interesse, das keineswegs erwidert wurde.
»Weswegen sitzt du denn?« fragte er, sobald die Tür wieder zu war. Yapp ließ sich auf die andere Pritsche fallen und beschloß zum ersten Mal in seinem Leben, unter keinen Umständen die Wahrheit zu sagen.
»Muß was wirklich Übles gewesen sein«, fuhr Mr. Watford fröhlich fort. »Zu mir stecken sie nie nette Kerle.« Yapp stieß ein paar krächzende Laute aus und zeigte auf seinen Mund.
»Ah, ein Stummer«, fuhr Mr. Watford fort, »das ist praktisch.
Schweigen ist Gold, wie ich immer behaupte. Macht die Dinge um vieles leichter. Soll ich dich mal ärztlich untersuchen?« Yapp schüttelte heftig den Kopf.
»Na gut, ganz wie du willst. Aber ich sag dir, ich bin besser als der Gefängnisarzt, auch wenn das nicht viel heißen will. Deshalb bin ich ja hier. Weißt du, die Natur hat mich zu einem großen Arzt bestimmt, aber die Umwelt war gegen mich. Mein Vater war Trambahnschaffner, wenn er nüchtern war, und wenn nicht, dann ein Sadist; und meine Mutter ging auf den Strich, um uns über die Runden zu bringen, und deshalb mußte ich mit vierzehn von der Schule. Den ersten Job bekam ich bei einem Alteisenhändler, wo ich Bleirohre aus dem anderen Metall aussortieren mußte. Interessantes Zeug dieses Blei. Hat mir die ersten Einblicke in die physiologische Wirkungsweise von Metallgiften verschafft. Arsen ist auch ein Metall, wußtest du das? Na, jedenfalls habe ich danach für einen Fotografen gearbeitet ...«
Mr. Watfords schreckliche Lebensgeschichte zog sich endlos hin, so daß Yapp Mühe hatte, nicht einzuschlafen. Im Normalfall hätte sie ihn interessiert und sogar an sein Mitgefühl appelliert, aber die Vorstellung, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach dazu verdammt war, das nächste Opfer des Giftmischers von Bournemouth zu werden, erstickte den Ruf seines sozialen Gewissens. Außerdem hatten ihm seine früheren Zellengenossen eine schmerzliche Vorstellung von der Mentalität des gewöhnlichen Mörders gegeben. Wollte er in Mr. Watfords tödlicher Gesellschaft überleben, mußte er ihm gegenüber eine unmoralische Überlegenheit an den Tag legen. Vor allem mußte er den Andersartigen und Durchtriebenen spielen und sich eine grausige Verbrechenssparte ausdenken, die ganz seine Domäne war. Zum allererstenmal in seinem Leben richtete Yapp seinen Verstand auf ein Problem, das persönlich, unmittelbar und real war und nichts mit Politik, Geschichte oder Klassenunterschieden zu tun hatte.
Als schließlich das Abendessen kam, hatte er einen Entschluß gefaßt. Sichtlich angewidert und schaurig grinsend reichte er sein Tablett an Watford weiter, schüttelte den Kopf und zeigte auf seinen Mund.
»Wie, du willst diesen Fraß nicht?« fragte der Häftling. Wieder lächelte Yapp, wobei er sich diesmal so weit nach vorn beugte, daß sein Gesicht dem von Mr. Watford unangenehm nahe kam.
»Nicht genug Blut«, krächzte er.
»Blut?« sagte Watford und ließ seinen Blick von Yapps grausigem Lächeln zu den Würsten und wieder zurück wandern. »Du hast schon recht, viel Fleisch ist in diesen Knastwürsten wirklich nicht drin.«
»Richtiges Blut«, flüsterte Yapp.
Mr. Watford rückte an den hinteren Rand seiner Pritsche. »Richtiges Blut?«
»Frisch«, krächzte Yapp und rückte nach. »Frisch aus der Gurgel.«
»Gurgel?« stammelte Mr. Watford unter weitgehender Einbuße seiner Gesichtsfarbe und seiner guten Knastsitten. »Was meinst du mit ›frisch aus der Gurgel‹?« Aber Yapp grinste nur noch häßlicher.
»Leck mich, jetzt haben sie mir einen Irren geschickt.« Schlagartig erlosch Yapps Lächeln.
»Das war nicht als Beleidigung gedacht«, fuhr Mr. Watford hastig fort. »Ich wollte nur sagen ...« Er brach ab und fragte mit einem Blick auf die Würstchen: »Bist du sicher, daß du dein Essen nicht haben willst? Vielleicht fühlst du dich danach weniger ... ich meine, besser oder so was.« Aber Yapp schüttelte den Kopf und legte sich wieder hin. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, begann Mr. Watford betont langsam zu essen. Ein paar Minuten lang herrschte Schweigen in der Zelle, und allmählich kam wieder Farbe in Mr. Watfords Gesicht. Da schlug Yapp erneut zu.
»Zwerge«, stöhnte er. Ein Stück Wurst auf dem Weg in Mr. Watfords Mund zitterte am Ende der Gabel. »Was meinst du mit ›Zwerge‹?« fragte er, diesmal eher streitsüchtig. »Ich bin gerade beim Abendessen, und da mußt du ...«
»Kleine Zwerge.«
»Scheiß drauf«, schimpfte Mr. Watford und
Weitere Kostenlose Bücher