Feine Familie
krassem Gegensatz zu den Gesprächsthemen, die sich ausschließlich um banale, häusliche Dramen drehten.
»Und da hab' ich zu ihm gesagt: ›Wenn du jeden Abend in die Kneipe gehst und dort das Urlaubsgeld versäufst, wirst du dir eines Tages dein eigenes Abendessen kochen müssen. Was du kannst, kann ich schon lange.‹«
»Und was hat er darauf gesagt?« fragte eine Frau, die ER auf einen Gegenstand stickte, dessen Verwendungszweck Emmelia bis dahin ausschließlich für SIE gekannt hatte, nämlich eine Damenbinde.
»Konnte nicht viel dazu sagen? Ist ja nicht so, als ob ...« Auch Emmelia hätte nicht viel sagen können. Sie wanderte weiter zwischen den Frauen hindurch, die sich über Babynahrung, die gestrige Folge von Coronation Street, Urlaubspläne und anderer Leute Eheprobleme unterhielten. Als sie schließlich auf ein paar Künstlerinnen ihres Fachs stieß, die Venen auf etwas malten, was sie ansonsten für ziemlich unförmige Salzstreuer gehalten hätte, kam sie sich vor wie in einem Irrenhaus. Sie sank auf einen Stuhl und starrte mit aufgerissenem Mund in die Luft.
Am anderen Ende der Werkshalle entspann sich eine erhitzte Diskussion zwischen der Vorarbeiterin und der Dame vom Empfang.
»Na hören Sie mal, woher hätte ich das denn wissen sollen? Sie haben sie reingelassen, also habe ich natürlich gedacht, sie sei Einkäuferin ...«
»Und ich sage Ihnen, es ist Miss Petrefact. Ich habe sie letztes Jahr bei der Blumenschau gesehen. Sie saß in der Jury für die Begonien.«
»Sie hätten sie aufhalten sollen.«
»Das ging nicht. Sie fragte nach Mr. Petrefact und marschierte geradewegs in sein Büro. Er wird an die Decke gehen, wenn er das erfährt.«
»Da ist er nicht der einzige«, meinte die Vorarbeiterin und eilte, um Miss Emmelia abzufangen, die sich von ihrem Stuhl erhoben hatte und auf die Halle zusteuerte, in der früher die Webstühle repariert wurden.
»Da können Sie nicht rein«, sagte die Vorarbeiterin etwas zu herrisch, womit sie prompt Miss Emmelias angeschlagene Selbstsicherheit herausforderte.
»Aber sicher kann ich das«, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. »Und ich habe es auch vor.«
»Aber ...«, stammelte die Vorarbeiterin. Emmelia schob sie beiseite, öffnete die Tür und sah sich auf der Stelle der schwachen Hoffnung beraubt, daß wenigstens ein Teil der Petrefact-Baumwoll-Manufaktur noch seinem ursprünglichen Zweck diente. Sie wurde von einem warmen Luftschwall und einem äußerst unangenehmen Geruch überfallen. Einen Augenblick lang zögerte sie und richtete dann ihre Aufmerksamkeit auf ein Fließband mit diesen abscheulichen Salzstreuern, die sie in der anderen Werkshalle bereits so irritiert hatten. Während die Dinger langsam an ihr vorbeiglitten, kehrte dieses unwirkliche Gefühl zurück – diesmal mit Zutaten. Mit Schnurrbärten oder Stäbchen, jedenfalls mit irgendwelchen hervorstechenden Eigenschaften, deren Zweck sie sich nur vage vorstellen konnte respektive es lieber nicht wollte. Sie erlebte die ehemalige Webstuhlreparaturwerkstatt als Ort eines unwirklichen Schauspiels, als alptraumartigen Aufmarsch in Plastik gegossener, erigierter Penisse. Emmelia schloß die Tür und versuchte, ihre Fassung wiederzugewinnen. »Ist alles in Ordnung?« fragte die Vorarbeiterin besorgt. »Natürlich«, fuhr Emmelia sie an, riß, teils aus unfreiwilliger Neugier, mehr aber aus ehernem, tief in ihrem Charakter verwurzeltem Pflichtgefühl, die Tür wieder auf und ging hinein. Die Vorarbeiterin folgte ihr bedrückt. Emmelia warf einen strengen Blick auf die Penisse.
»Und wie nennt man das da?« wollte sie wissen und erweiterte ihr Vokabular um Dildo.
»Brauchen viele Männer so was?« Doch der schwache Hoffnungsschimmer, daß die Mühle vielleicht doch nicht ganz das war, was sie auf Anhieb schien, sondern vielmehr eine Fabrik, in der künstliche Gliedmaßen für Sexualkrüppel hergestellt wurden, wurde durch die Antwort endgültig zum Erlöschen gebracht.
»Die sind für Frauen«, entgegnete die Vorarbeiterin schwach. »Letzten Endes wohl schon, aber zunächst einmal sind doch Männer diejenigen ...«
»Für lesbische Frauen«, erklärte die Frau verlegen. Emmelia schürzte die Lippen, richtete sich zu voller Größe auf und schritt langsam das Fließband ab. Am anderen Ende stand eine Maschine, die hauchdünne Artikel in Glanzfolie einwickelte.
»Französische Kondome«, erklärte die Frau, als Emmelia mit herablassendem Interesse fragte, was das
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