Feine Milde
würde noch nicht in Panik geraten, Helmut. Das ist bestimmt bloß so eine Phase. Der Junge ist doch ein anständiger Kerl.« Er lachte leise. »Heute kann ich’s ja ruhig sagen: ich habe selbst zweimal eine Ehrenrunde an der Penne gedreht. Und in dem Alter so ab und zu mal was mitgehen lassen, mein Gott, das haben doch wohl die meisten von uns ausprobiert. Wie alt ist Christian jetzt?«
»Sechzehn.«
»Na, siehst du. Noch ein, zwei Jahre, dann hat der die Kurve gekriegt.«
»Fragt sich nur, in welche Richtung.«
»Ich würde vielleicht mal ein bißchen genauer hingucken, was der so für Freunde hat.«
»Damit fange ich gerade an.«
Es klopfte selbstbewußt, und Wim Lowenstijn kam herein: marineblaue Hose und Shirt, eine Wildlederjacke in russischgrün und Schuhe in derselben Farbe.
Toppe machte sich mit ihm bekannt, und sie tauschten sich eine halbe Stunde ganz freundschaftlich über die Kinderhandelsgeschichte aus, aber Toppe wurde das Gefühl nicht los, daß Lowenstijn irgendwas auf dem Herzen hatte. Als Heinrichs mit den Getränken aus der Kantine zurückkam, rückte er endlich damit heraus.
»Vermutlich habt ihr da wenig Einfluß, aber wenn ihr irgendwie könnt, dann pfeift schnell euren Alten zurück.«
Toppe und Heinrichs sahen sich an.
»Ja«, meinte Lowenstijn. »Der löst sonst noch den Dritten Weltkrieg aus. Ich meine, im Augenblick ist die Stimmung in meinem Land sowieso nicht besonders deutschfreundlich, und wenn ich diesen Siegelkötter erlebe, dann fange sogar ich an, das zu verstehen. Typ Herrenrasse.«
Heinrichs schüttelte den Kopf. »Mir hat er die ganze Zeit mit seinen neuen holländischen Freunden in den Ohren gelegen.«
Lowenstijn lachte hart. »Untermenschen! Der behandelt uns alle, als wären wir dämliche Lakaien. Wohl gemerkt, immer mit Contenance, immer sehr korrekt. Gestern hat er meine ganze Truppe zu sich nach Hause zum Essen geladen. Was für eine spleenige Idee! Keiner von uns hatte Lust dazu, aber man bemüht sich ja, nicht wahr? Nun, ein paar von meinen Jungs sind, wie heißt das so schön? Einfache Leute. Das wird ja bei euch nicht anders sein. Es war ganz erlesen, große Tafel, fünf Gänge, der Koch servierte selbst, und Frau Siegelkötter, Agnes heißt sie übrigens, zelebrierte ihre Rolle als Dame des Hauses. Es gab drei verschiedene Weine und sogar zwei Sorten Wasser. Irgendwann fragte einer meiner Kollegen sehr höflich nach einem kalten Bier. Frau Agnes sprintete sofort in die Küche, aber nicht ohne ihrem Mann vorher noch etwas zuzuflüstern.
Und leider war ich nicht der einzige, der es gehört hat.«
Kunstpause. Toppe ließ sie gespannt stehen. »Zu Hause fressen die den Kitt aus den Fensterrahmen, aber hier wollen sie Ansprüche stellen.«
Heinrichs schnappte nach Luft.
»Und?« fragte Toppe. »Was hat Siegelkötter gesagt?«
»Nichts«, antwortete Lowenstijn. »Er hat genickt. Aber diese Geschichte ist eigentlich nur die Krönung einer langen Reihe von Scheußlichkeiten.«
Toppe arbeitete viel länger, als er es vorgehabt hatte. Er wollte endlich mit dieser Liste fertig werden. Als die letzte Haustür sich hinter ihm schloß, war es schon nach neun und zu spät, ins Präsidium zu fahren.
Astrid war nicht zu Hause. Auf dem Fußboden im Flur lag ein großer Zettel: Meine Eltern haben mich zum Essen eingeladen. Schlaf bloß nicht ohne mich ein. A.
Er schickte ihr in Gedanken eine Umarmung. Sie versuchte immer noch einen komplizierten Seiltanzakt. Ihre Eltern, alter Klever Geldadel, fanden, Toppe sei wohl kaum die rechte Partie für ihre einzige Tochter; zu alt, zu wenig an den Füßen. Seit Astrid bei ihnen aus- und bei ihm eingezogen war, hatte es ein paar unschöne Szenen und Brüche gegeben, aber Astrid ließ sich nicht beirren. Sie ging den Weg, den sie für den richtigen hielt, und versuchte gleichzeitig, ihren Eltern klar zu machen, daß sie sie trotzdem gern hatte.
Er machte sich Salami- und Käsebrote und setzte sich vor den Fernseher. Gegen halb elf schlief er ein. Das Telefon riß ihn aus einem wirren Traum von einem Freßgelage, bei dem Agnes Siegelkötter einen Schleiertanz aufführte.
Es war Gabi. »Helmut, ich habe einen entsetzlichen Krach mit Christian gehabt, und er ist dann einfach abgehauen. Jetzt ist er schon seit fünf Stunden weg.«
»Wie spät ist es?« fragte er, Watte im Mund.
»Gleich halb eins.«
»Ich komme.«
Er ging ins Bad, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und putzte die Zähne. Dann schrieb er eine Nachricht,
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