Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1
dazu wird später noch Zeit sein. Wir haben viel Zeit, Talon Silverhawk.«
Talon wollte sich nicht ausruhen, er wollte Antworten hören, aber sein geschwächter Körper ließ ihn im Stich, und er
lehnte sich zurück und schlief sofort wieder ein.
Vogelgezwitscher begrüßte ihn, als er ausgehungert erwachte.
Pasko brachte ihm einen großen Becher mit Brühe und nötigte
ihn, nicht zu schnell zu trinken. Der andere Mann, Robert,
war nirgendwo zu sehen.
Nachdem Talon sich an der heißen Flüssigkeit den Mund
verbrannt hatte, fragte er: »Was ist das hier für ein Ort?«
»Kendricks Gasthaus, mitten im Wald von Latagore.«
»Warum?«
»Warum was? Warum sind wir hier, oder warum lebst du
noch?«
»Beides«, antwortete Talon.
»Das Zweite zuerst«, erklärte Pasko, setzte sich auf den
kleinen Hocker und griff nach seinem eigenen Becher mit
Brühe. »Wir haben dich inmitten von Überresten eines Gemetzels gefunden, wie ich es seit meiner Jugend nicht mehr
gesehen habe, als ich Soldat im Dienst des Herzogs von Dungareen unten in Loren war. Wir hätten dich beinahe ebenso
wie die anderen den Krähen überlassen, aber ich habe gehört,
wie du gestöhnt hast … nun, es war nicht mal ein richtiges
Stöhnen, eher ein lautes Seufzen. Es war wirklich eine glückliche Fügung des Schicksals, dass du überlebt hast. Du hattest
so viel Blut auf dir und eine lang gezogene Wunde über der
Brust; wir dachten beide zunächst, du wärst tot. Aber du hast
noch geatmet, also hat mein Herr gesagt, wir sollten dich mitnehmen. Er ist ein weichherziger Mann, das kann ich dir sagen.«
»Ich sollte mich bei ihm bedanken«, erwiderte Talon, obwohl er sich vollkommen elend fühlte, weil er als Einziger
überlebt hatte, während der Rest seines Volkes gestorben war,
und diese Empfindung so etwas wie Dankbarkeit gegenüber
seinem Lebensretter beinahe unangemessen wirken ließ.
»Ich nehme an, er wird schon eine Möglichkeit finden, wie
du es ihm zurückzahlen kannst«, sagte Pasko. Er stand auf.
»Möchtest du dir ein bisschen die Beine vertreten?«
Talon nickte. Er setzte dazu an aufzustehen, aber ihm wurde plötzlich schwindlig, und alles tat ihm weh. Er hatte nicht
genug Kraft.
»Schön langsam, mein Junge«, sagte Pasko und reichte
ihm die Hand. »Du bist schwächer als ein neugeborenes Kätzchen. Du wirst noch viel Ruhe und Essen brauchen, bevor du
auch nur annähernd wieder gesund sein wirst, aber du solltest
tatsächlich versuchen, dich ein bisschen zu bewegen.«
Pasko half Talon zum Scheunentor, und sie gingen nach
draußen. Es war ein frischer Morgen, und Talon sah, dass sie
sich in einem Tal im Tiefland befanden. Die Luft schmeckte
und roch andere als in den Bergen. Talons Knie zitterten, und
er konnte nur ganz kleine Schritte machen. Pasko hielt inne
und ließ dem Jungen Zeit, sich ein wenig umzusehen.
Sie befanden sich in einem großen Hof mit Ställen, umgeben von einer hohen Steinmauer. Talon erkannte sofort, dass
es sich um eine Verteidigungsmauer handelte, denn an mehreren Stellen führten Steintreppen nach oben, die mit der Mauer
abschlossen. Die Mauerkrone hatte Schießscharten und Zinnen und einen Wehrgang, der breit genug für zwei Männer
nebeneinander war.
Das eigentliche Gasthaus war das größte Gebäude, das Talon je gesehen hatte, viel größer als das Rundhaus und das
Langhaus seines Dorfes. Es war drei Stockwerke hoch, und
das Dach war mit Steinschindeln gedeckt und nicht mit Stroh
oder Holz. Das Haus selbst war weiß verputzt, mit Holzleisten
rings um Türen und Fenster, und die Läden und Türen waren
leuchtend grün gestrichen. Mehrere Schornsteine spuckten
grauen Rauch in den Himmel.
Ein Wagen war neben die Scheune geschoben worden, und
Talon nahm an, dass es sich um den handelte, der ihn hierher
getragen hatte. In einigem Abstand vom Anwesen konnte er
ein paar Baumwipfel sehen; also hatte man den Wald direkt
rings um das Gasthaus herum wahrscheinlich gerodet.
»Was siehst du?«, fragte Pasko zu Talons Erstaunen.
Talon drehte sich um und bemerkte, dass der ältere Mann
ihn forschend betrachtete. Er setzte dazu an, etwas zu sagen,
dann erinnerte er sich daran, dass Großvater immer gesagt
hatte, er solle über das Offensichtliche hinausschauen, also
antwortete er nicht, sondern bedeutete Pasko stattdessen, ihm
zur nächsten Treppe und auf die Mauer zu helfen. Er stieg
langsam nach oben, bis er im Stande war, über die Mauer
hinwegzusehen.
Das Gasthaus stand in der Mitte einer
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