Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1
regnete.
Ihm tat alles weh, und er fühlte sich steif, aber wenn er sich
ein wenig bewegte, verursachte das keine so stechenden
Schmerzen mehr wie zuvor.
Ein Mann saß auf einem Holzhocker und sah ihn aus dunklen Augen an. Das Haar des Mannes war überwiegend grau,
obwohl auch noch ein wenig Schwarz geblieben war. Sein
Schnurrbart hing zu beiden Seiten des Mundes herunter, den
er fest zusammengekniffen hatte, als müsste er sich konzentrieren. Stirnfransen verbargen den größten Teil seiner Stirn,
und das Haar hing ihm bis auf die Schultern.
Kieli blinzelte sich den Schlaf vollends aus den Augen und
fragte: »Wo bin ich?«
Der Mann sah ihn neugierig an. »Du bist also wieder unter
uns?«, fragte er überflüssigerweise. Er hielt einen Augenblick
inne, dann rief er über die Schulter hinweg zum Scheunentor:
»Robert!«
Einen Moment später öffnete sich das Tor, und ein anderer
Mann kam herein und kniete sich neben Kieli.
Dieser Mann war noch älter, sein Haar grau ohne eine Spur
anderer Farbe, sein Blick der eines Mannes, der daran gewöhnt ist, Autorität auszuüben, und er sah den Jungen unverwandt an. »Nun, Talon, wie geht es dir?«, fragte er leise.
»Talon?«
»Du hast uns gesagt, du hießest Talon Silverhawk«, erklärte der ältere Mann.
Der Junge blinzelte und versuchte, seine Gedanken zu ordnen und zu begreifen, wieso er so etwas gesagt hatte. Dann
erinnerte er sich an die Vision, und er begriff, dass es tatsächlich eine Namensvision gewesen war. Eine weit entfernte
Stimme erklang in seinem Kopf: Erhebe dich und sei eine
Waffe für dein Volk.
»Woran kannst du dich noch erinnern?«
»Ich erinnere mich an den Kampf …« Eine finstere Grube
öffnete sich in seinem Magen, und er spürte, dass ihm Tränen
in die Augen traten. Er zwang die Traurigkeit beiseite und
sagte: »Sie sind alle tot, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete der Mann namens Robert. »Woran kannst
du dich aus der Zeit danach erinnern?«
»Ein Wagen …« Kieli, der sich selbst nun wohl als »Talon« betrachten musste, schloss eine Weile die Augen, dann
sagte er: »Ihr habt mich weggebracht.«
»Ja«, erwiderte Robert. »Wir konnten schließlich nicht zulassen, dass du an deinen Wunden stirbst.« Leise fügte er hinzu: »Außerdem gibt es vieles, was wir über dich und über den
Kampf wissen wollen.«
»Was denn?«, fragte Talon.
»Das kann warten.«
»Wo bin ich?«, wiederholte Talon.
»Du bist in der Scheune von Kendricks Gasthaus.«
Talon versuchte sich zu erinnern. Er hatte von diesem Ort
gehört, wusste aber keine Einzelheiten mehr. »Warum bin ich
hier?«
Der Mann mit dem hängenden Schnurrbart lachte. »Weil
wir dich gerettet haben, und das hier war ohnehin unser Ziel,
also haben wir dich, oder das, was von dir übrig war, mitgeschleppt.«
»Und«, fuhr Robert fort, »das hier ist ein sehr guter Ort,
um sich auszuruhen und gesund zu werden.« Er stand auf und
ging weg, mit leicht geduckter Haltung, weil die Decke so
niedrig war. »Kendrick gestattet uns, diese Scheune umsonst
zu benutzen. Im Gasthaus gibt es wärmere Zimmer, saubereres Bettzeug und besseres Essen -«
»Aber auch zu viele Augen und Ohren«, unterbrach ihn der
erste Mann.
Robert warf ihm einen Blick zu und schüttelte beinahe
unmerklich den Kopf.
Der erste Mann sagte: »Du trägst einen Männernamen,
aber ich sehe keine Tätowierungen auf deinem Gesicht.«
»Der Tag des Kampfes war mein Namenstag«, erwiderte
Talon mit leiser Stimme.
Der zweite Mann, Robert, sah erst seinen Gefährten an,
dann wandte er sich wieder dem Jungen zu. »Das war vor
über zwei Wochen, Junge. Du bist mit uns unterwegs gewesen, seit Pasko dich in deinem Dorf gefunden hat.«
»Hat außer mir nicht doch noch jemand überlebt?«, fragte
Talon mit brüchiger Stimme.
Robert kehrte an die Seite des Jungen zurück, kniete sich
hin, legte ihm sanft die Hand auf die Schulter und sagte: »Sie
sind alle tot.«
Pasko fügte hinzu: »Diese Dreckskerle haben gründliche
Arbeit geleistet, das muss man ihnen lassen.«
»Wer war es?«, fragte Talon.
Sanft drückte Robert den Jungen zurück auf den Strohsack.
»Ruh dich aus. Pasko wird dir bald ein wenig Suppe geben. Du
bist dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen. Lange
Zeit haben wir befürchtet, dass du nicht überleben würdest. Wir
haben dich mit kleinen Schlucken Wasser und kalter Brühe
versorgt. Jetzt ist es Zeit für etwas Kräftigeres.« Er hielt inne.
»Es gibt vieles, worüber wir reden müssen, aber
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