Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1
Großvater immer gesagt hatte: Kümmere dich um die Arbeit,
die direkt vor dir liegt, und denke dabei nicht an das, was
später auf dich zukommen wird. Also wandte er sich wieder
dem Lederriemen zu, den er in der Hand hielt, und konzentrierte sich darauf, die Stiche so fest und gleichmäßig zu machen, wie es ging.
Wochen vergingen, und aus dem Sommer wurde Herbst. Talon spürte die Veränderung in der Luft, so wie ein wildes Tier,
das sein ganzes Leben in den Bergen verbracht hat, es gespürt
hätte. Das Tiefland rings um Kendricks Gasthaus unterschied
sich in vielfältiger Weise von dem Hochland, in dem er aufgewachsen war, aber es gab genügend Ähnlichkeiten, dass er
sich eins mit dem Rhythmus der Jahreszeiten fühlte.
Wenn er mit Caleb unterwegs war, sah er, wie die Felle von
Kaninchen und anderen Tieren in Vorbereitung auf den Winter
dichter wurden. Viele Bäume verloren die Blätter, und bald
schon würde die erste Kälte sie rot, golden und hellgelb färben.
Vögel zogen nach Süden, und die Tiere, die im Herbst
Junge bekamen, waren läufig. Eines Nachmittags hörte er das
Brüllen eines männlichen geflügelten Drachen, der eine Herausforderung an alle anderen Männchen hinausschrie, die
seinen Weg kreuzen würden. Mit den kürzer werdenden Tagen kam eine Melancholie auf, die manchmal drohte, Talon
zu überwältigen. Herbst war die Zeit der Ernte, die Leute salzten Fleisch und Fisch für den Winter ein, sammelten Nüsse,
flickten Umhänge und Decken und bereiteten sich ganz allgemein auf einen strengen Winter vor.
Der Winter würde seinen Kummer noch größer machen,
denn immer, wenn der Bergschnee das kleine Dorf von der
Welt abgeschnitten hatte, waren die Dorfbewohner einander
noch näher gekommen, hatten im Langhaus oder im Rundhaus zusammengesessen und sich Geschichten erzählt. Familien waren ebenfalls näher zusammengerückt, manchmal
zwei, drei oder sogar noch mehr im gleichen Haus, und hatten
Trost in der Nähe der anderen gefunden; alte Geschichten
waren wieder und wieder erzählt und erfreut angehört worden,
ganz gleich, wie gut man sie schon kannte.
Die Lieder der Frauen, wenn sie ihren Töchtern das Haar
kämmten oder eine Mahlzeit zubereiteten, die Kochdüfte, die
leisen Stimmen der Männer, die sich Witze erzählten … Talon wusste, dass dieser Winter sein bisher schwerster sein
würde.
Als er eines Tages von der Jagd zurückkehrte, stand die
Kutsche des Grafen Ramon DeBarges wieder einmal im Hof.
Caleb hielt einen Augenblick inne, dann sagte er: »Eine
gute Jagd, Talon.«
Talon nickte zur Antwort. Wie immer hatten sie den Tag
über kaum ein Wort gewechselt, sich auf Gesten und auf ihr
gemeinsames Gefühl für ihre Umgebung verlassen. Caleb war
mindestens so gut wie die besten Jäger seines eigenen Volkes,
obwohl es etwa ein Dutzend im Dorf gab, die es durchaus mit
ihm aufnehmen konnten … gekonnt hätten.
Caleb sagte: »Bring das Wild in die Küche.«
Talon zögerte einen Augenblick. Er hatte noch nie einen
Fuß ins Gasthaus gesetzt und war nicht sicher, ob er das jetzt
tun sollte. Aber Caleb würde ihn nicht um etwas Verbotenes
bitten, also lud er sich die erlegte Hirschkuh wieder auf den
Rücken und ging die breiten Stufen zur Hintertür hinauf. Die
Tür war aus Eichenholz mit festen Eisenbeschlägen – wieder
etwas, das mehr zu einer Festung als zu einem einfachen
Gasthaus passte. Talon dachte nicht mehr viel darüber nach;
er war inzwischen sicher, dass Kendricks Gasthaus ebenso zur
Verteidigung wie zur Bequemlichkeit errichtet worden war.
Er packte den schweren Eisengriff und drückte, und die
Tür ging nach innen auf. Er folgte dem Schwung in die Küche
und entdeckte eine Welt, die ganz anders war als alles, was er
je zuvor gesehen hatte.
Die Orosini kochten über offenem Feuer oder in großen
Gemeinschaftsöfen, aber so etwas wie eine Küche gab es eigentlich nicht. Talons erste Wahrnehmung war die von Chaos,
aber als er einen Moment innehielt, wurde eine bestimmte
Ordnung ersichtlich.
Lela blickte auf und sah ihn, grüßte ihn mit einem raschen
Lächeln und wandte ihre Aufmerksamkeit dann wieder einem
großen Topf zu, der in einer der drei riesigen Feuerstellen
hing. Eine rundliche Frau bemerkte Lelas Blick, folgte ihm
und entdeckte den hageren Jungen mit dem Wild.
»Ist es ausgenommen?«, wollte sie wissen.
Talon nickte. Dann dachte er daran hinzuzufügen: »Aber
nicht gehäutet.«
Sie zeigte auf einen Fleischhaken über einer
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