Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1
großen Metallpfanne, die wohl das Blut und die Eingeweide auffangen
sollte. Er brachte die Hirschkuh dorthin und hängte sie mit
Hilfe des Riemens auf, mit dem die Hinterbeine zusammengebunden waren. Sobald das erledigt war, drehte er sich um
und wartete.
Nach einiger Zeit schaute die ältere Frau wieder zu ihm hin
und bemerkte, dass er sich nicht rührte. »Weißt du, wie man
Wild häutet, Junge?«, fragte sie.
Er nickte.
»Na dann los!«
Talon zögerte nicht und machte sich daran, das Tier schnell
und wirkungsvoll zu häuten. Er dachte auch keinen Augenblick darüber nach, wer diese Frau war und wieso sie ihm
Befehle erteilte; bei seinem Volk waren die Frauen für alles,
was mit Lebensmitteln zu tun hatte, zuständig, und die Männer folgten an Herden, Ofen und Feuergruben ihren Anweisungen.
Er war schnell fertig, und als er sich umdrehte, um einen
Lappen zu suchen, mit dem er das Messer säubern konnte, warf
ihm jemand einen zu. Er fing ihn auf und sah den grinsenden
Gibbs, der vor einem großen Tisch stand und Gemüse putzte.
Hinter Gibbs entdeckte Talon andere Diener, die an einer
Feuerstelle Fleisch am Spieß brieten, während weitere damit
beschäftigt waren, frisches Brot zu backen. Plötzlich war Talon überwältigt von den Küchendüften und empfand sowohl
gewaltigen Hunger als auch einen brennenden Schmerz in der
Brust, denn die Wärme und die Gerüche erinnerten ihn an
seine Mutier und an die anderen Frauen, die im Dorf immer
das Essen gekocht hatten.
Als die Tränen schon zu fließen drohten, sah Talon, wie
eine große Tür aufging und ein Mann hereinkam. Er war in
mittleren Jahren, kräftig und hatte einen großen Bauch, der
ihm über den Gürtel hing – tatsächlich erinnerte dieser Gürtel
Talon eher an einen Sattelgurt als an einen Gürtel –, er trug
Kniehosen, die in hohen Stiefeln steckten, und ein weites,
weißes Hemd mit Spritzern von Soßen und Wein. Sein Gesicht war beinahe vollkommen rund, sein Haar schwarzgrau
meliert und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sein Backenbart war so lang, dass sich die beiden Seiten beinahe am Kinn
trafen. Er sah sich mit kritischem Blick um und konnte nichts
Falsches erkennen, bis er Talon entdeckte.
»Du da, Junge«, sagte er und zeigte anklagend auf Talon,
obwohl seine Augen dabei vergnügt blitzten und ein leichtes
Lächeln seine Lippen umspielte. »Was machst du da gerade?«
»Ich habe dieses Wild gehäutet, Herr«, sagte Talon zögernd, denn der Mann hatte Roldemisch gesprochen. Die Frage hatte ihn aus seinem Kummer gerissen.
Der Mann ging entschlossen auf ihn zu. »Das hast du gerade getan«, erklärte er übermäßig laut. »Ich habe dich gefragt, was du jetzt tust!«
Talon hielt einen Augenblick inne und sagte dann: »Ich warte darauf, dass mir jemand sagt, was ich all Nächstes tun soll.«
Der Mann grinste. »Gut gemacht. Du bist der Junge aus der
Scheune. Dein Name ist Talon, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ich bin Leo, und das hier ist mein Königreich«, verkündete der Mann und breitete in einer umfassenden Geste beide
Arme aus. »Ich habe von Roldem bis nach Krondor sowohl in
adligen als auch bürgerlichen Haushalten als Koch gearbeitet,
und es gibt niemand in diesen Ländern, der sich je über meine
Kochkunst beschwert hätte.«
Im Hintergrund murmelte jemand: »Weil sie gestorben
sind, bevor sie Gelegenheit dazu hatten.« Lachen ertönte, bevor es den Helfern gelang, ihre Heiterkeit zu unterdrücken,
und Leo fuhr mit unerwarteter Schnelligkeit herum und bedachte sie mit einem finsteren Blick. »Du da, Gibbs! Ich erkenne dieses freche Mundwerk genau. Bring jetzt den
Schweinefraß in den Stall!«
Gibbs richtete sich auf und sagte: »Aber das sollte der
Neue tun, Leo! Ich soll bei Tisch bedienen.«
»Nicht heute Abend, mein lieber Gibbs. Der Junge wird
bedienen, und du kannst dich um die Schweine kümmern.«
Während Gibbs betrübt die Küche verließ, zwinkerte Leo
Talon zu. »Das wird seine Dreistigkeit ein bisschen dämpfen.« Er betrachtete die Kleidung des Jungen kritisch. »Komm
mit.«
Ohne sich noch einmal umzudrehen und nachzusehen, ob
Talon ihm wirklich folgte, machte sich Leo auf den Weg und
schob die große Tür auf, durch die er hereingekommen war.
Talon folgte ihm auf dem Fuß.
Der Raum war offenbar eine Art Dienstbotenbereich mit
einer weiteren Tür in der gegenüberliegenden Wand. Große
Tische standen an den Wänden links und rechts. Auf diesen
Tischen waren Unmengen Teller, Schüsseln, Kelche und
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