Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1
geheimnisvoller Reisender hier.« Er
tätschelte Caleb die Schulter. »Ella hat es auf ihn abgesehen,
seit sie … wie alt war? Fünfzehn?«
»Das war vor vier Jahren, Jacob.«
Jacob nickte. »Ich sage ihr immer wieder, wenn sie dich
besser kennen würde, würde sie es sich anders überlegen, aber
du weißt ja, wie Schwestern sind.«
»Eigentlich nicht«, erwiderte Caleb. »Ich habe einen Bruder, erinnerst du dich?«
Ein seltsamer Ausdruck zuckte über Jacobs Gesicht. Es
dauerte nur einen Augenblick, aber Talon bemerkte es. Dann
zwang Jacob so etwas wie Unbeschwertheit in seine Stimme
und sagte: »Magnus kann man wohl schwer vergessen.« Er
schob den Stuhl unter lautem Scharren zurück und stand auf.
»Nun, ich habe zu tun. Wenn ihr irgendwas braucht, ruft mich
einfach.«
»Schon in Ordnung«, sagte Caleb.
Talon wartete, bis Jacob gegangen war, dann sagte er zu
Caleb: »Es gibt so vieles, was ich bei euch nicht verstehe.«
»Bei uns?«, wiederholte Caleb.
»Bei dir und Jacob und denen in Kendricks Gasthaus.« Er
rang damit, seine Gedanken zu ordnen. »Bei Leuten, die keine
Orosini sind.«
Caleb sah sich um. »Du solltest lieber vergessen, dass du
Orosini bist, zumindest, solange wir in Hörweite von Fremden
sind.«
»Warum?«
»Jemand hat sich einige Mühe gegeben, deinen Stamm zu
vernichten, Talon. Obwohl du allein sicher keine Gefahr für
diese Leute darstellst, könntest du als Zeuge eines kalkulierten
Völkermords eine mögliche Quelle der … Verlegenheit sein.«
Er hob die Stimme. »Und nun zurück zu dem, was du vorher
gesagt hast. Was genau ist es, das du nicht verstehst?«
Talon wandte den Blick ab. Als er wieder sprach, war seine
Stimme ruhig und tonlos. »Die … Neckereien wäre, glaube
ich, das richtige Wort. Diese Art zu reden, die nach Scherzen
klingt, aber kein Scherz ist.«
»Die Hänseleien.«
»Ja, das ist der Begriff, nach dem ich gesucht habe. Lela
macht das manchmal mit mir, und es gibt Augenblicke, in
denen ich nicht weiß, ob sie das, was sie sagt, ernst meint oder
nicht.«
Caleb zuckte mit den Schultern. »Damit bist du unter jungen Männern keinesfalls einzigartig, Talon.«
»Vielleicht, aber du bist alter als ich, und ich dachte – «
Caleb schnitt ihm mit seinem seltenen Lachen das Wort ab.
»Ich kann dir da nicht helfen, junger Freund.« Er beugte sich
vor und starrte in sein Bier. »Eines Tages wirst du vielleicht
den Rest meiner Familie kennen lernen und sehen, wo ich auf
gewachsen bin. Aber selbst, wenn das nie der Fall sein sollte,
solltest du wissen, dass ich nicht gerade auf gewöhnliche Art
erzogen wurde.« Er blickte auf und lächelte. »Ich bin auf gewachsen wie ein Blinder unter Sehenden.«
»Wie meinst du das?«
»Eines Tages werde ich es dir erklären, aber im Augenblick genügt es, wenn du weißt, dass ich kein glückliches
Kind war. Meine Eltern sind außergewöhnliche Leute und
ausgesprochen begabt, aber sie hatten keine Möglichkeit zu
beheben, was sie bei mir als Mangel betrachteten.«
Talon lehnte sich zurück und schaute seinen Freund verblüfft an. »Ich sehe keinen Mangel an dir, Caleb. Ich halte
dich für den besten Jäger, den ich kenne, und mein Volk war
berühmt für seine Jäger. Ich habe mit Kendrick genug
Schwertkampf geübt, um zu wissen, dass du mit der Klinge so
begabt bist wie mit dem Bogen. Du sprichst nicht viel, aber du
denkst, bevor du etwas sagst. Du hast Geduld und tiefe Einsicht in die Dinge. Was sollte dir noch fehlen?«
Caleb lächelte und lehnte sich zurück. »Du entwickelst
dich wohl zu einem Erforscher des menschlichen Wesens,
wie? Ja, so wirkt Robert auf Leute, wenn man ihm genug Zeit
lässt. Das ist eine seiner Begabungen. Was mir fehlt«, sagte er
leise, »ist die Magie. Mein Bruder ist nicht der einzige Magier
in der Familie; tatsächlich bin ich der Einzige, der nicht dazu
begabt ist. Ich bin auf einer Insel aufgewachsen, wo ich praktisch der einzige Nichtmagier war.«
Talon fragte: »Robert und dein Bruder sind also beide Magier?« Er sprach sehr leise.
»Das hast du nicht gewusst?«
»Ich habe nie einen von ihnen bei der Arbeit gesehen; allerdings …« Er hielt inne. »Was dein Bruder lehrt, hat einfach
damit zu tun, den Kopf zu benutzen, auf noch …« Er suchte
nach der richtigen Art, es auszudrücken. »Auf noch seltsamere Weise als in dem Logikunterricht, den Robert mir erteilt.
Magnus zeigt mir, wie ich hier drinnen« – er tippte sich an
den Kopf – »Dinge tun kann, die ich mir nicht
Weitere Kostenlose Bücher