Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1
wird jeden Augenblick hier
sein. Aber vergiss nicht, dass Begriffe wie richtig oder falsch
meistens relativ sind. Das Volk meines Vaters würde die
Auswahl einer Lebensgefährtin durch die Eltern für … nun ja,
für barbarisch halten.« Als Talons Miene sich verfinsterte,
fügte er hinzu: »Das war nicht beleidigend gemeint; ich will
dir nur klar machen, dass Dinge oft auf bestimmte Art bewertet werden, weil man das als Kind so gelernt hat. Aber der
Rest der Welt kann sich ungemein von dem unterscheiden,
was ein Kind sich vorstellt. Und jetzt geh und wasch dich.«
Talon stand auf, ging an der Theke vorbei und in die Küche. Der Anblick dort war ihm vertraut: Angelica und Ella
arbeiteten zusammen mit zwei anderen, einem Mann, der der
Ähnlichkeit nach zu schließen wohl Jacobs Vater war, und
einem anderen Mann, vermutlich dem Koch. Talon fand einen
Eimer und Seife und wusch sich. Als er aufblickte, sah er, wie
Ella ihm einen abschätzenden Blick zuwarf.
Er wagte ein zögerndes Lächeln und wischte sich die Hände an einem Tuch ab, das neben dem Eimer hing. Obwohl
Ella Caleb offensichtlich sehr gern hatte, schien sie Talon auf
eine verstörende Weise anzusehen. Er verließ die Küche wieder und kehrte zu Caleb zurück. Er setzte sich hin und schaute
den Mann an, den er für einen Freund gehalten hatte – aber
Caleb hatte mit der Frau geschlafen, die Talon liebte! Was
erwartete man eigentlich von ihm?
Schließlich seufzte Talon laut und verkündete: »Ich werde
die Frauen nie verstehen.«
Caleb lachte nur und sagte: »Willkommen in der Bruderschaft, mein Freund.«
Früh am nächsten Tag begann Caleb mit seiner Runde in der
Stadt. Fünf- oder sechsmal im Jahr ließ Kendrick bestimmte
Waren zum Gasthaus bringen, darunter Weizenmehl, Reis,
Zucker, Honig und andere Dinge, die in der Jahreszeit zu haben waren. Aber zweimal im Jahr wurde auch eine besondere
Liste aufgestellt, und jemand musste in die Stadt gehen, um
diese Dinge zu kaufen. Häufig war das Kendrick selbst, aber
diesmal hatte er sich entschlossen, Caleb zu schicken.
Nach dem dritten Geschäft, das sie besuchten, verstand Talon langsam, warum. Caleb schien einen sechsten Sinn fürs
Feilschen zu haben. Er konnte spüren, wenn ein Kaufmann
bereit war, einen niedrigeren Preis zu akzeptieren, oder wenn
er seine Grenzen erreicht hatte. Als sie die Straße entlang zum
nächsten Laden gingen, fragte Talon: »Woher weißt du das?«
»Woher weiß ich was?«
»Wann du aufhören musst zu feilschen.«
Caleb wich einer Bande von Jungen aus, die die Straße entlang auf sie zugerannt kamen, verfolgt von einem zornigen
Kaufmann. »Es gibt bestimmte Dinge, nach denen man Ausschau halten muss. Es ist ganz ähnlich wie beim Kartenspiel
oder wenn man sehen will, ob jemand lügt.«
»Auf welche Dinge muss ich denn achten?«
Caleb sagte: »Oh, da gibt es viele – aber fangen wir mit
dem Offensichtlicheren an. Die Miene. Der Gewürzhändler
heute früh zum Beispiel war erfreut, einen Kunden zu haben.
Man konnte ihm seine echte Freude über unser Kommen ansehen.«
»Woran?«
»Sobald du in einen Laden kommst, beobachte das Gesicht
des Mannes. Die meisten Kaufleute halten einen Augenblick
inne, um zu sehen, wer da kommt. In diesem Moment kannst
du die Wahrheit erkennen. Es braucht einige Zeit, das zu lernen, aber du wirst den Unterschied zwischen einem Mann, der
ehrlich erfreut ist, einen Kunden zu sehen, und einem, der nur
so tut, schon bald herausfinden. Der Erste ist versessen darauf, dir etwas zu verkaufen, während der Zweite es vielleicht
tun wird, vielleicht aber auch nicht.
Es gibt noch viele andere Wahrheiten hinter einem falschen Lächeln, einem freundlichen Gruß oder der Behauptung, dass ein Preis zu hoch oder zu niedrig sei. Für den Anfang solltest du am besten einfach nur die Männer beobachten, mit denen ich feilsche, und nicht mich, und selbst herausfinden, was es da zu sehen gibt.«
Talon beobachtete den ganzen Tag, und nach jedem Geschäftsabschluss stellte er Fragen. Langsam fing er an, ein
wenig von dem zu begreifen, was Caleb gesagt hatte, dass es
nämlich eindeutige Zeichen gab, wenn man nur die Geduld
aufbrachte, nach ihnen Ausschau zu halten.
Kurz nach Mittag erreichten sie einen kleinen Markt nahe
der Ostmauer der Stadt und drängten sich an den Buden vorbei, an denen es Essen, Kleidung, lebendes Geflügel,
Schmuck, Werkzeuge und Waffen zu kaufen gab. Es gab sogar einen Mann, der Söldner vermietete. Ein paar Leute,
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