Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1
hier eigentlich?«, fragte der Söldner verärgert.
»Der Mann da ist ein Mörder!«, schrie Talon und versuchte
erneut aufzustehen, das Gesicht vor Zorn verzerrt. In seiner
Wut war er wieder in seine eigene Sprache zurückgefallen.
Caleb ließ ihn halb auf die Beine kommen, dann trat er gegen seine linke Ferse, was ihn abermals zu Boden schickte. In
der Sprache der Orosini sagte er: »Niemand hier außer mir
versteht, was du gerade gesagt hast. Wieso glaubst du, dass
dieser Mann ein Mörder ist?«
»Er gehörte zu den Männern, die mein Volk umgebracht
haben!«
Caleb hatte den Blick nicht von dem Söldner abgewandt.
»Euer Name?«, fragte er den Mann auf Roldemisch.
»Wer will das wissen?«
»Jemand, der versucht, das Blutvergießen auf ein Minimum zu beschränken«, antwortete Caleb.
»Ich heiße John Creed und komme aus Inaska.«
Mit einem Blick zu Talon, um sich zu überzeugen, dass der
Junge sich immer noch zurückhielt, fragte Caleb: »Habt Ihr je
unter Raven gearbeitet?«
Creed hätte beinahe ausgespuckt. »Ich würde nicht mal auf
Raven pissen, wenn sein Arsch in Flammen stünde. Ich bin
ein Söldner, kein Kindermörder.«
Caleb ließ Talon langsam aufstehen.
Der Söldner, der erkannt hatte, dass die Gefahr vorüber
war, fragte: »Wer ist denn Euer heißblütiger Freund?«
»Das hier ist Talon, und ich heiße Caleb.«
John Creed steckte sein Schwert ein und sagte: »Wenn dieser Junge nach Ravens Bande sucht und sich weiterhin so
benimmt, solltet Ihr lieber dafür sorgen, dass er genug Silber
für seinen Scheiterhaufen bei sich hat. Sie werden ihn zu
Hundefutter verarbeiten, ohne auch nur einen Tropfen Bier zu
vergießen, und sich dabei halb totlachen.«
Caleb wandte sich Talon zu und fragte: »Was hast du dir
dabei eigentlich gedacht?«
Talon steckte langsam das Schwert ein und behielt Creed
weiter im Auge. »Er sieht aus wie …«
»Er sieht aus wie ein anderer, also stürzt du dich einfach
kopflos in den Kampf und vergisst alles, was man dir beigebracht hat?«
Talon betrachtete den Mann und versuchte, ihn mit den
Bildern in Übereinstimmung zu bringen, die immer noch lebhaft vor seinem geistigen Auge standen. Langsam begriff er,
wie dumm er gewesen war. Creed war ein kräftiger Mann mit
schwarzem Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel. Seine
Nase war offenbar mehr als nur einmal gebrochen worden und
kaum mehr als ein verzerrter Brocken Fleisch in seinem Gesicht. Sein Schnurrbart zog sich beinahe bis zum Kinn, und
sein Gesicht war insgesamt wenig bemerkenswert, wenn man
einmal von den Augen absah, die er zusammenkniff, während
er seinerseits den Möchtegern-Angreifer betrachtete. Talon
erkannte diese Augen: Sie waren wie die von Caleb, dunkel
und forschend, und ihnen entging nichts. Dieser Mann sah
einem der Männer, die sein Dorf zerstört hatten, ähnlich, einem der Männer, die Talon überrascht hatte, bevor man ihn
mit der Armbrust angeschossen hatte, aber es war nicht derselbe Mann.
»Es tut mir Leid«, sagte er zu Caleb.
»Sag das nicht mir, sondern ihm.«
Talon ging an Caleb vorbei auf John Creed zu. »Ich habe
mich geirrt. Es tut mir Leid.« Er sah dem Söldner direkt in die
Augen.
Creed schwieg einen Moment, dann zuckte sein rechter
Mundwinkel nach oben, und mit einem schiefen Grinsen sagte
er: »Schon gut, Junge. Aufbrausend zu sein ist das Vorrecht
der Jugend. Das verwächst sich mit der Zeit … wenn du das
Glück hast, lange genug zu leben.«
Talon nickte. »Ich habe übereilt gehandelt.«
Creed sah ihn weiterhin forschend an. Schließlich sagte er:
»Ravens Männer müssen dir Schlimmes angetan haben, wenn
du so heftig reagierst.«
»Das haben sie«, war alles, was Talon erwiderte.
»Nun, wenn du nach Raven und seiner Bande suchst, es
heißt, dass er in den letzten Jahren für den Herzog von Olasko
gearbeitet habe. Der junge Kaspar hat sie bei Schwierigkeiten
drunten im Umstrittenen Land eingesetzt, gegen die Leute des
Herzogs von Maladon und Simrik. Also befindest du dich am
falschen Ende der Welt, wenn du Raven suchst.«
Caleb sagte: »Dürfen wir Euch zur Entschuldigung zu einem Bier einladen?«
»Gerne«, erwiderte Creed.
Caleb sah sich in dem vollen Gasthaus um, in dem nun,
nachdem klar geworden war, dass es keinen Kampf geben
würde, alle wieder zur Tagesordnung übergingen. Er bestellte
beim Wirt ein Bier für Creed, dann packte er Talon am Ellbogen und steuerte ihn durch die Menge. An einem Ecktisch
schob er den Jungen auf einen Stuhl. Er
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